"Noch nie ist die Anbahnung einer möglichen Regierungskoalition von so viel schlechter Laune begleitet worden wie jetzt die zwischen Union und SPD. Vor allem aber: Noch nie hat eine mögliche Regierungspartei ihre eigenen Chancen so schlecht geredet wie die SPD. [...]
Kapitalismuskritik, Abschaffung der privaten Krankenversicherung, Einführung der Vermögensteuer, Aufnahme von mehr Flüchtlingen, weniger Nationalstaat, mehr Europa – und das alles auf einmal.
Aber in welcher Blase leben jene, die das fordern? Haben sie allen Ernstes den Eindruck, dass eine Mehrheit der Deutschen auf diese Themen gewartet hat? [...]
So muss die Groko in der SPD für alle Übel des Universums herhalten, und Politiker wie Sigmar Gabriel werden als personifizierte große Koalition und mit Billigung von Martin Schulz weggemobbt: Sie dürfen nicht mal mehr an den Sondierungsgesprächen teilnehmen. Gabriel hat an dem Wahldebakel Anteil, weil seine zögerliche Übergabe an Schulz die SPD unvorbereitet traf. Doch er ist in der SPD eine Klasse für sich und derzeit auch der beliebteste Sozialdemokrat in Deutschland. Das hat aber offenbar nichts mehr zu bedeuten. [...] "
(Giovanni di Lorenzo, ZEIT 18.1.18, S.1)
"[...] Die SPD ist traumatisiert davon, dass sie ihre Regierungsverantwortung meist im Kontrast zu ihren programmatischen Vorstellungen ausüben muss.
Nach 16 Jahren Kohl endlich wieder an der Macht hieß für die SPD, den Kriegen im Kosovo und in Afghanistan zuzustimmen. Während man heute nicht einmal eine symbolische Erhöhung des Spitzensteuersatzes durchsetzen kann, war es Gerhard Schröder, der den Spitzenverdienern die größte Steuererleichterung der bundesdeutschen Geschichte bescherte. Die Parität bei der Finanzierung der Krankenversicherung, deren Wiederherstellung die SPD jetzt als Sondierungserfolg feiern soll, wurde einst unter ihrer Ägide gekündigt. Und die Agenda-Reformen, die dem Land eine spektakuläre Phase der Prosperität bescherten, haben der SPD einen offenbar nicht mehr zu heilenden Vertrauensverlust unter ihrer Anhängerschaft eingetragen.
Verantwortungsvolles Regieren hieß für die SPD, abzuweichen von den eigenen Vorstellungen. Es ist also nicht überraschend, dass nach zwei Jahrzehnten von ihrer programmatischen Erkennbarkeit nicht mehr viel geblieben ist. Kann sie diesen Weg weitergehen? Das ist die historisch aufgeladene Frage, die am kommenden Sonntag in Bonn entschieden wird.
Dass der Anführer der Groko-Bewegung noch im September Anführer der Oppositionsbewegung war, ist an Peinlichkeit schwer zu überbieten. Alle Argumente, die bis heute gegen den Bund mit der Union vorgebracht werden, stammen ursprünglich von dem, der diese Argumente nun glaubt, niederkämpfen zu müssen: von Martin Schulz.
Was soll die Basis von der Autorität und Überzeugungsfähigkeit einer Führung halten, die sie binnen weniger Wochen in einen solchen Wahnzirkus geführt hat? Und immer mit dem Gestus, sie wisse, was für die Partei das Beste sei. Noch am Tag nach dem Scheitern von Jamaika bekräftigte der Vorstand den Oppositionskurs. Bis Ex-Genosse Frank-Walter Steinmeier in Gestalt des Bundespräsidenten seine Freunde zur Verantwortung rief und in der SPD-Führung alle Dämme brachen.
Erst das Land, dann die Partei – nach dieser Maxime agiert die SPD von jeher. Doch könnte sie eben an dem Punkt angekommen sein, dem Land am ehesten zu dienen, wenn sie egoistisch ist und – zumindest dieses eine Mal – die eigene Zukunft ins Zentrum ihrer Entscheidung rückt. [...]"
(Peter Dausend und Matthias Geis, ZEIT 18.1.18, S.4)
"Noch nie hat eine mögliche Regierungspartei ihre eigenen Chancen so schlecht geredet wie die SPD." (di Lorenzo)
"Verantwortungsvolles Regieren hieß für die SPD, abzuweichen von den eigenen Vorstellungen." (Dausend, Geis)
Es ist für die Unternehmerseite immer sehr angenehm, wenn die SPD Unternehmer begünstigt und Arbeiternehmerrechte einschränkt; denn erstens sind die Gewerkschaften weit zahmer mit Protesten und zweitens wird der Streit in die linken Parteien getragen.
Drittens aber können die Konservativen, wenn die "Reform"exzesse abgebaut werden, das als soziale Wohltaten auf ihre Fahne schreiben. Wehe, wenn die SPD-Mitglieder einen "Zwergenaufstand" machen und "ihre eigenen Chancen" schlecht reden.
So lief es bei der Agenda 2010, so war es aber auch schon in der Weltwirtschaftskrise ab 1929, als die SPD den harten Sparkurs Brünings stützte, der die Wähler in Verzweiflung stürzte und sie der NSDAP in die Arme trieb.
Heute liegen die Dinge anders. Aber wenn die SPD sich ihrer Wählerschaft entfremdet, wird das von Konservativen gern gesehen.
Mehr dazu bei Dausend und Geis, ZEIT 18.1.18, S.4
Der Verrat an den sozialdemokratischen Zielen ist das Problem seit der Agenda des "Freundes der Bosse" und Autokanzlers Gerhard Schröder!
Jetzt ist es der wie immer unberechenbarer Sigmar Gabriel (der vor gut vier Jahren Rot-Rot-Grün verhindert hat), der mit Anbiederung an rechtes Klientel und unter Aufgabe von überlebenswichtigen Klimazielen eine große Koalition verficht.
(aus einem Leserbrief an die FR, 19.1.18)
Albrecht Müller von den Nachdenkseiten zur gegenwärtigen Situation der SPD
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