Montag, 30. Oktober 2017

Katalonien: Ist Spaniens Staatskrise beendet?

In Barcelona haben am Sonntag Hunderttausende für die Einheit Spaniens und demonstriert. Die Zentralregierung in Madrid hatte das abtrünnige Katalonien unter Zwangsverwaltung gestellt und Neuwahlen in der Region für den 21. Dezember angekündigt. Jetzt muss Rajoy die Wähler überzeugen, um einen Sieg der Separatisten zu verhindern, fordern einige Kommentatoren. Andere finden, dass Spanien in vielerlei Hinsicht schon jetzt zur Normalität zurückkehrt.
EL PAÍS (ES)

Normalität durch Neuwahl

Die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Madrid bis zur Wahl am 21. Dezember wird Katalonien wieder auf den rechten Pfad zurückführen, glaubt El País:
„Wird der Artikel 155 mit Augenmaß, Kohärenz und Intelligenz angewandt, könnte Katalonien wahrscheinlich schnell zur institutionellen Normalität zurückkehren. Bis aber die vom Separatismus aufgerissenen Wunden der katalanischen Gesellschaft verheilen, wird es länger dauern. ... Die Separatisten müssen verstehen, dass ihre Forderungen - sofern sie sich innerhalb des rechtlichen Rahmens bewegen - ebenso legitim sind, wie die der anderen. Jetzt haben sie die Gelegenheit, sich mit den anderen Kräften dort zu messen, wo dies in einer Demokratie üblich ist: Beim Gang zur Wahlurne. ... Die gesellschaftliche Mehrheit muss sich organisieren, um die Wahl zu gewinnen, damit sich der aktuelle Alptraum in Katalonien nicht wiederholt.“
Zum Originalartikel
Teilen auf
 
DE STANDAARD (BE)

Separatisten überschätzten Volkes Willen

An den Demonstrationen für die Einheit des Landes nahmen auch viele Katalanen teil. Das ist ein gutes Zeichen, findet De Standaard:
„Es sieht so aus, als ob die Parteien, die die Unabhängigkeit befürworten, den Willen des Volkes überschätzt haben, in Eigenständigkeit seinen Weg zu gehen. Auf der Grundlage ihres Wahlsieges von 2015 sahen sie ihre Wünsche als Realität an. Das boykottierte Referendum, bei dem 90 Prozent für die Unabhängigkeit stimmten, hat sie blind gemacht. ... Zweifellos fordern viele Katalanen mehr Befugnisse von Madrid, weil sie mehr in die spanische Schatzkiste einzahlen, als sie zurückbekommen. Aber weil viele Katalanen mehr Autonomie wollen, bedeutet das nicht, dass sie auch für ein unabhängiges Katalonien sind.“
Inge Ghijs
Teilen auf
zur Homepage
 
HOSPODÁŘSKÉ NOVINY (CZ)

Traum von der Unabhängigkeit ist beendet

Der Kampf in Katalonien ist entschieden, fasst die Tageszeitung Hospodářské noviny ihre Sicht der Dinge zusammen:
„Ohne einen Tropfen Blut sind die Katalanen um ihre Unabhängigkeit gekommen, kaum dass sie ausgerufen wurde. Sie erklärten sich mit Neuwahlen zufrieden. Den Chefs im Kampf um die Selbstständigkeit ist klar geworden, dass keiner der heißblütigen Fans der Unabhängigkeit dieses Streben so ernst meinte, dass er für die 'Freiheit der Heimat' sein Leben geben würde. Das gab den Ausschlag. Der Geist des Separatismus, der quer durch Europa aus der Flasche entwich, muss wieder zurück. Wer sich auf unserem Kontinent ähnlich verhalten möchte, etwa einige reiche italienische Regionen, muss sich das nach der Erfahrung der Katalanen genau überlegen. Das ist gut so.“
Teodor Marjanovič
Teilen auf
zur Homepage
 
NEUE ZÜRCHER ZEITUNG (CH)

Rajoy muss separatistische Katalanen umstimmen

Ob die Neuwahl ein Ausweg aus der Katalonien-Krise ist, hängt entscheidend von Premier Rajoy und seinem Management der Machtübernahme in Barcelona ab, meint die Neue Zürcher Zeitung:
„In weniger als zwei Monaten, am 21. Dezember, sollen nach seinem Fahrplan in Katalonien vorzeitige Neuwahlen für das Regionalparlament stattfinden. Bei der letzten Wahl vor zwei Jahren erreichten die Separatisten eine absolute Mehrheit im Parlament. Rajoy muss also zumindest einen Teil der Wähler umstimmen, will er einen erneuten Sieg der Unabhängigkeitsbefürworter verhindern. Sollte allerdings auch unter Madrids Kontrolle wieder eine separatistische Parlamentsmehrheit gewählt werden, so wäre dies ein Fiasko für Rajoy.“
Werner J. Marti
Teilen auf
Zum Originalartikel
 
JUTARNJI LIST (HR)

Eigenständigkeit wäre gerechter

Auch wenn ein unabhängiges Katalonien nicht im Einklang mit dem Gesetz wäre, es wäre dennoch die gerechtere Option, findet Jutarnji list:
„Die spanische Regierung verschanzt sich hinter der Verfassung und gesteht der katalanischen Nation das Recht auf Selbstbestimmung nicht zu. Dies kann eine politische Option sein, aber keine ethische. Sie kann im Einklang mit dem Recht sein, ist aber nicht gerecht. Die spanische Regierung wird die Verantwortung für diese Option tragen, aber wahrscheinlich nicht die Konsequenzen, die ganz Spanien betreffen werden.“
Inoslav Bešker
Teilen auf
zur Homepage
Katalonien: Ist Spaniens Staatskrise beendet?

Samstag, 28. Oktober 2017

Warum liegt Separatismus im Trend?


Katalanen streben nach Unabhängigkeit, in Norditalien verlangen die Menschen mehr Autonomie und in Schottland fordern viele die Abspaltung von Großbritannien: Regionale Nationalismen erleben eine Renaissance. Kommentatoren beleuchten die Gemeinsamkeiten dieser Konflikte.
LA REPUBBLICA (IT)

Ohnmacht flüchtet sich in regionales Streben

Den norditalienischen Referenden und dem katalonischen Unabhängigkeitsstreben liegt ein gespaltenes Verhältnis zu Europa zugrunde, findet der Politikwissenschaftler Marc Lazar in La Repubblica:
„Die Regionalismen bekunden ein demokratisches Unbehagen. Sie machen sich das allgemeine Misstrauen den Politikern gegenüber zunutze, das Gefühl der Ohnmacht, das die nationale Politik vermittelt, den Eindruck, dass Europa weit entfernt sei. Sie greifen folglich den Wunsch der Bürger auf, eine Entscheidungsinstanz zu finden, die ihnen näher steht. Alle diese Bewegungen haben ein gespaltenes Verhältnis zu Europa. Einerseits erklären sie sich im Namen der offenen Wirtschaft als Europäer. ... Andererseits erliegen sie der Versuchung, sich in ihre lokalen Realitäten und Besonderheiten zurückzuziehen.“
Marc Lazar
Teilen auf
zur Homepage
 
SEGA (BG)

Aufstand der Reichen

Kataloniens Unabhängigkeitsbewegung weist Gemeinsamkeiten mit dem Aufstand der Bulgaren gegen die Osmanen am Ende des 19. Jahrhunderts auf, findet der Kolumnist Bojko Lambowski in Sega:
„Was befeuert den Separatismus? Ist es Sklaverei, Ungerechtigkeit und das Ausrauben der lokalen Bevölkerung durch die Staatsmacht? Oder ist es der 'Egoismus der Reichen', die alles, was sie erwirtschaftet haben, für sich behalten wollen, anstatt es mit den ärmeren oder 'fauleren' Regionen zu teilen? ... Laut dem Historiker Nikolaj Gentschew war der Grund für den Bulgarischen Aprilaufstand 1876 nicht die Repression der bulgarischen Bevölkerung durch die Osmanen, sondern das gestiegene Selbstbewusstsein der Bulgaren. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die Orte Kopriwschtiza, Batak und Panagjurischte, die bereits eine stärkere Wirtschaft, Kultur und Bildung hatten, am lautesten nach Unabhängigkeit verlangten.“
Bojko Lambowski
Teilen auf
Zum Originalartikel
 
FINANCIAL TIMES (GB)

Wirtschaftliche Zentren nicht vernachlässigen

Die Fälle Lombardei und Venetien sowie Katalonien zeigen, dass aufstrebende urbane Zentren sich von der Politik zunehmend vernachlässigt fühlen, warnt Financial Times:
„Alles deutet darauf hin, dass große Städte immer mehr Selbstverwaltungsrechte fordern, weil sich die Beziehung mit dem jeweiligen Rest des Landes zunehmend verschlechtert. Dieser Rest des Landes braucht die Städte zwar, doch gleichzeitig stört er sich an deren Aufstieg. Wenn Konservative den Nationalstaat wirklich wertschätzen, dürfen sie nicht zu einer einseitigen Lobby für die unzufriedensten Provinzen werden. Das ist eine Art Missbrauch, so kann ein Staat nicht funktionieren. Die langfristig größte Bedrohung für die nationale Einheit kommt von produktiven, nach außen gerichteten Regionen, die auf ihre innerstaatlichen Nachzügler blicken und sich wie an einen Leichnam gefesselt fühlen.“
Ganesh Janan
Teilen auf
Zum Originalartikel
 
SPIEGEL ONLINE (DE)

Regional-Patriotismus ist Europas Zukunft

Von Barcelona aus könnte eine Welle von Autonomiebewegungen gestartet werden, die ganz Europa erfasst, freut sich der Kolumnist Jakob Augstein in Spiegel Online:
„Es könnte sein, dass in Spanien ein Prozess beginnt, der eines Tages den ganzen Kontinent erfasst: das Ende des Nationalstaats, die Renaissance der Region, die Geburt eines neuen Europas. Und wenn es so wäre: Gut so! Die Nationen sollen leben - aber die Nationalstaaten sterben. Wir brauchen sie nicht mehr. ... Denn die Wahrheit ist: Der Nationalstaat war einmal modern, inzwischen ist er ein alter Hut. Es gibt kaum eine wichtige Frage, die sich heute noch in nationalen Grenzen klären lässt. Souveränität ist für die weitaus meisten Staaten eine Illusion, für die europäischen ohnehin.“
Jakob Augstein
Teilen auf
Zum Originalartikel
Warum liegt Separatismus im Trend?