Dienstag, 27. September 2016

Wie Investitionsschutz- und Freihandelsabkommen Armut, Hunger und Krankheit fördern

„Es geht in dieser Welt etwas auf fundamentale Weise schief“, sagt die Generaldirektorin der WHO, Margaret Chan, „wenn Unternehmen politische Maßnahmen anfechten können, die die Öffentlichkeit vor gesundheitsgefährdenden Produkten schützen sollen.“ Tatsächlich ermöglichen es die in Freihandelsabkommen verankerten Investitionsschutzklauseln transnationalen Konzernen, immer dann gegen Staaten zu klagen, wenn diese Gesetze zum Verbraucher- oder Gesundheitsschutz der Bevölkerung einführen möchten, die potenziell die Gewinnerwartungen verringern können. (Informationsseite und Broschüre von medico international)

"In Investitionsschutzabkommen haben Investoren grundsätzlich nur Rechte, aber keine Pflichten" (S.9 der Broschüre)

Das gilt nicht nur für TTIP und CETA, sondern auch für alle Investitionsschutzabkommen der EU mit Ländern der Dritten Welt. 

Montag, 19. September 2016

Verzögert sich die Selbstaufgabe des Bundestags?

Seit Monaten hört man über das Ceta-Abkommen Folgendes: Jede Veränderung der Umweltgesetzgebung, die die Gewinnerwartungen kanadischer Unternehmen stören könnte, kann zu einer Klage gegen die Bundesrepublik führen. Üblicherweise geht es in solchen Fällen um zwei bis dreistellige Millionenbeträge, wenn nicht um mehrere Milliarden.

Der Vertrag würde also bedeuten, dass die Bundesrepublik ihren internationalen Verpflichtungen zum Umweltschutz (UN-Klimakonferenz in Paris 2015) nicht nachkommen kann, weil alle dafür nötig werden den Gesetze zu hohen Schadenersatzforderungen führen würden.

Das heißt, mit Ceta gäbe der Bundestag sein Recht auf Gesetzgebung im Bereich des Umweltschutzes auf. (dazu vgl. den Erklärfilm von Campact)
Meiner Kenntnis nach ist das beim allem sonstigen Hochjubeln des Vertrags nie dementiert worden.

Beim SPD-Parteikonvent ist laut ZEIT online Folgendes geschehen:

"So verzichtete Gabriel auf die Forderung, einzelne Bestandteile des Abkommens bereits ab Oktober und damit vor Inkrafttreten von Ceta anzuwenden. Stattdessen soll das Europaparlament einen Konsultationsprozess starten, an dem auch die nationalen Parlamente und die Zivilgesellschaft beteiligt werden sollen. Geklärt werden soll, welche Teile des Abkommens in nationale und welche in europäische Zuständigkeit fallen. Damit könnte sich die Anwendung des Freihandelsabkommens deutlich verzögern. "Wir haben noch ein Stück des Weges vor uns", sagte Gabriel nach der Abstimmung." (Hervorhebung von Fonty)

Das einzige, was er versprochen hat ist also eine Verzögerung der Beendigung des Rechts auf Verbesserung des Umweltschutzes. Das "Stück des Weges", das vor der SPD liegt, ist die vermutlich Selbstaufgabe des Bundestages.
Ich würde gern widerlegt; aber dafür scheint es zu spät zu sein.

Die Kampagne-Organisation Campact schreibt dazu:


"Die Grundwerte-Kommission, die Juristen, die Jusos, mehrere SPD-Landesverbände, der Arbeitnehmerflügel, die SPD-Frauen und zahlreiche Landes- und Kreisverbände –sie alle hatten klargestellt, dass CETA die roten Linien reißt, die die SPD gezogen hatte. Dennoch haben die Delegierten des kleinen SPD-Parteitags dem Antrag des Parteivorstands zugestimmt.

Nun befürwortet die SPD die Zustimmung zum vorliegenden CETA-Vertragstext im Ministerrat. Und will sogar die vorläufige Anwendung des Abkommens, wenn auch ohne das Kapitel über den Investitionsschutz. Diese Entscheidung ist sehr enttäuschend und nicht nachvollziehbar. Schließlich sagt selbst die Parteiführung um Sigmar Gabriel, dass CETA große Schwächen hat. Die SPD gibt also ohne Not ihr einziges wirkungsvolles Druckmittel aus der Hand, die EU-Kommission zu Nachverhandlungen zu bringen. [...]
Die Auseinandersetzung um CETA wird von uns allen einen langen Atem erfordern. Ja, es könnte sogar noch Jahre dauern, bis es uns gelingt, das Abkommen zu stoppen. Wenn wir aber dranbleiben, schaffen wir das auch."

mehr dazu: 

Eine Kolumne von Oskar Lafontaine (zu der ich leider keinen Link setzen kann):
„Für viele ist nur ein totes CETA ein gutes CETA. Sie sind traumatisiert von den neoliberalen Erfahrungen und haben keine Lust darauf, dass die SPD und die Republik in den alten Gleisen, wenn auch mit von Gabriel angezogener Bremse, weiterfährt“, schreibt Heribert Prantl heute in der „Süddeutschen Zeitung“. „Viele Sozis sehnen sich danach, dass die SPD wieder Anschluss hat an eine der großen gesellschaftlichen Bewegungen der Gegenwart, wie sie die Anti-TTIP- und Anti-CETA-Bewegung darstellt. Diesen Anschluss findet Gabriel nicht, auch wenn er die kritischen Debatten über CETA noch so lobt.“
Die Zustimmung des SPD-Konvents zu CETA ist vergleichbar mit der Zustimmung zur Agenda 2010. Inhaltlich sind viele Mitglieder nicht überzeugt, aber dem Mann an der Spitze zuliebe werden die Bedenken heruntergeschluckt und ein Kurs mitgetragen, der den Grundwerten der Sozialdemokratie von Bebel bis Brandt fundamental widerspricht.
Beim Weltwirtschaftsforum in Davos 2014 hatte Gabriel die Kritik an Abkommen wie TTIP noch abgekanzelt: „Vielleicht ist es in Deutschland manchmal etwas schwieriger, weil wir ein Land sind, das reich und hysterisch ist.“ Es ist absurd, wenn er nun so tut, als sei das Abkommen mit den USA, TTIP, das er selbst lange Zeit gelobt hat, schlecht, das Abkommen mit Kanada, CETA, dagegen gut. CETA höhlt die Demokratie aus und bedeutet unter anderem:
  • Konzerne können mit Sonderklagerechten gegen bestehende und geplante Standards im Umwelt-, Gesundheits-, Verbraucher- und Arbeitsschutz vorgehen. Die US-Konzerne werden über ihre kanadischen Töchter diese Chancen nutzen.
  • An neuen Gesetzen sollen Ausschüsse mitwirken, ohne dass deren Befugnisse geklärt sind. Eine teilweise Entmachtung der demokratischen Instanzen von Bundestag und Bundesrat.
  • Künftig muss der Staat erst nachweisen, dass Gentechnik, Pestizide und Chemikalien gesundheitsgefährdende Wirkungen haben. Bislang ist es umgekehrt: Um eine Zulassung zu bekommen, müssen die Konzerne den Nachweis erbringen, dass ein Mittel ungefährlich ist.
Die SPD fährt also in den neoliberalen Gleisen weiter und findet keinen Anschluss an die großen gesellschaftlichen Bewegungen unserer Zeit. Rot-Rot-Grün macht nur Sinn, wenn eine solche Regierung die Demokratie stärkt, den Sozialstaat wiederherstellt und eine friedliche Außenpolitik nach dem Vorbild Willy Brandts beginnt. Mit einer Partei, die an der Agenda 2010 festhält und den mit CETA verbundenen Demokratieabbau billigt, ist das nicht möglich. Eine LINKE, die sich auf eine solche Politik einließe, würde sich selbst erledigen.
In Österreich haben dagegen 90 Prozent der Mitglieder der Schwesterpartei der SPD, der SPÖ in einer Befragung gegen CETA gestimmt. Warum hat Gabriel nicht auch die SPD-Mitglieder befragt?

Udo Bullmann,  Vorsitzender der Europa-SPD schreibt auf seiner Webseite:
 „Die Entscheidung ist selbstverständlich kein Freifahrtschein für CETA. Nur wenn die im Beschluss geforderten Verbesserungen von der EU-Kommission und der kanadischen Regierung rechtsverbindlich sichergestellt werden, können wir am Ende im Europäischen Parlament das Abkommen unterstützen“, sagt Udo Bullmann.
  • So kann CETA nicht angewendet werden, bevor nicht das Europäische Parlament über das Abkommen abgestimmt hat. Erst nach Beschlussfassung im Europäischen Parlament und dem Dialog mit den nationalen Parlamenten darf über eine vorläufige Anwendung entschieden werden.
  • Ausländische Investoren dürfen gegenüber Inländern nicht ungerechtfertigt bevorzugt werden.
  • Das in der Europäischen Union gültige Vorsorgeprinzip wird in keiner Weise infrage gestellt.
  • Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ratifiziert werden. Bei Verstößen gegen Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards müssen entsprechende Sanktionen entwickelt werden.
  • Handelsabkommen dürfen keine demokratischen Prozesse aushebeln. Veränderungen können nur im Einklang mit den demokratisch legitimierten Parlamenten und Regierungen getroffen werden.
  • Die Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge müssen unberührt bleiben und in vollem Umfang heute wie morgen sichergestellt sein.
„Die SPD drängt darauf, dass sich CETA und die darin beschriebenen Handelspraktiken an den globalen Nachhaltigkeitszielen und dem Pariser Klimaschutzabkommen orientieren. Globalisierung braucht Regeln. Wir wollen den Durchbruch für ein gutes Handelsabkommen, das faire Standards setzt“, so Udo Bullmann. „Ohne fortschrittliche Lösungen bei den offenen Fragen werden wir CETA ablehnen.“ Das Europäische Parlament soll voraussichtlich im Frühjahr 2017 über das Abkommen entscheiden.
Wenn all das eintrifft, was Bullmann glaubt erreichen zu können, werde ich ihn wählen, sonst nicht. - Schade, ich habe immer große Stücke auf ihn gehalten.

Matthias Miersch: Persönliche Erklärung (20.9.16)
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Genossinnen und Genossen, gestern hat die SPD die Chance eröffnet, in Europa mehr Demokratie zu wagen, indem sie eine Brücke zwischen Kritikern und Befürworten von CETA geschlagen hat. Nach dem SPD-Parteikonvent in Wolfsburg lauten viele Überschriften in den Medien: „SPD stimmt CETA zu“. Da ich mich seit vielen Monaten intensiv mit dem Abkommen beschäftigt und mich auch an vielen Stellen in die Debatte eingemischt habe, möchte ich Sie/Euch in dieser persönlichen Erklärung direkt informieren und offene Fragen beantworten: Die SPD hat auf ihrem Konvent nicht für CETA gestimmt, wie viele schreiben. Sie hat einen Antrag verabschiedet, der unsere Anforderungen an das Abkommen und den nun vor uns liegenden Prozess beschreibt. Wir haben ganz klare Bedingungen beschlossen, die am Ende Maßstab für jeden SPDAbgeordneten sind. Wenn unsere Forderungen nicht erfüllt sind, werde ich CETA nicht zustimmen: - „Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf die Rechtstatbestände, wie z.B. ‚faire und gerechte Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen und Bürgern stattfinden. Investorenschutz sollte somit auf die Diskriminierung gegenüber inländischen Investoren beschränkt werden. - Unter Bezugnahme auf das Cartagena-Protokoll und die Rechtsposition der EU im WTOVerfahren über Hormonfleisch zwischen der EU und Nordamerika muss unmissverständlich und rechtsverbindlich erklärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Abkommens in keiner Weise vom primärrechtlich verankerten Vorsorgeprinzip (Art. 191 AEUV) abweicht. - Im Rahmen des Beratungsprozesses ist ein Sanktionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards zu entwickeln. Die acht ILOKernarbeitsnormen müssen ratifiziert werden. Der soziale Dialog ist effektiv auszugestalten, sodass das Verfahren zur Durchsetzung von Standards wirkungsvoll genug ist und durch Sanktionsmöglichkeiten ergänzt wird. - Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständlich ergeben, dass bestehende und künftig entstehende Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge nicht vom Vertrag erfasst werden.“ Im Unterbezirk Region Hannover hatten wir beschlossen, dass wir CETA in der jetzt vorliegenden Form ablehnen und Verbesserungen über das Europäische Parlament erreichen wollen. Genau dieser Weg wird nun im Konventsbeschluss beschrieben: Es muss einen breiten Anhörungsprozess des Europäischen Parlaments mit der Zivilgesellschaft und den nationalen Parlamenten geben, der Lösungsansätze für alle umstrittenen Fragen entwickelt, bevor das Europäische Parlament über den Vertrag abstimmt und Teile des Abkommens vorläufig angewendet werden. In diesem Zusammenhang wird es intensive Auseinandersetzungen um die Fragen geben, welche Bereiche des Abkommens in die alleinige Zuständigkeit der EU fallen und damit vorläufig angewendet werden können. Die SPD legt sich im Beschluss fest: Unter anderem das hoch umstrittene Kapitel zum Investorenschutz fällt in nationale Zuständigkeit. Dieser Bereich kann also nur dann angewendet werden, wenn auch das letzte nationale Parlament der Europäischen Union zugestimmt hat. Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Genossinnen und Genossen, im August habe ich ein Papier verfasst, indem ich aufgezeigt habe, an welchen Stellen die roten Linien der SPD überschritten sind. Ich habe geschrieben, dass dem jetzt vorliegenden CETA-Entwurf nach meiner Überzeugung kein SPD-Parlamentarier zustimmen kann. Als Brücke zwischen CETA-Kritikern und CETA-Befürwortern innerhalb der SPD habe ich in diesem Papier und letztlich auch dem Konvent die gerade beschriebene Klärung über das Europäische Parlament mit einem breiten Diskurs mit den nationalen Parlamenten und der Zivilgesellschaft vorgeschlagen. Ich bin stolz, dass der gestern verabschiedete SPD-Beschluss aufgrund eines Vorschlag aus dem Bezirk Hannover nun genau diesen Weg zeichnet und bedanke mich ausdrücklich bei Bernd Lange und Stephan Weil, mit denen ich diese Änderung erreichen konnte. Jetzt müssen wir beweisen, dass Europa in der Lage ist, neue Wege der Demokratie und Transparenz zu gehen. Ich hoffe sehr, dass wir für diesen Weg viele Mitstreiter in den anderen EU-Mitgliedstaaten finden können. Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass Sigmar Gabriel mit der Kanadischen Handelsministerin gestern noch Änderungen im Hinblick auf die Arbeitnehmerrechte für den Ministerrat angekündigt hat, die den DGB-Vorsitzenden Rainer Hoffmann dazu veranlasst haben, auf dem Konvent für die Zustimmung zum nun beschlossenen Antrag zu werben. Ich füge den Antrag, den wir als Bezirk Hannover gestellt haben, dieser persönlichen Erklärung bei, damit jeder erkennen kann, dass wir Hannoveraner eine erhebliche Änderung am Ursprungsantrag des Parteivorstandes erreicht haben. Ebenso erhaltet ihr den vollständigen Beschluss des SPDParteikonvents: 
Herzlich 
Matthias Miersch

Parlamentarische Linke

Die AfD hat Anspruch auf sieben wichtige Posten in Berliner Bezirken

"Mit wem die Posten besetzt werden sollen, ist noch ungewiss. Viele der Kandidaten haben so gut wie keine Politik- oder Verwaltungserfahrung, Namen und Gesichter kennt man kaum. Ein AfD-Kandidat in Neukölln sorgte für allgemeine Erheiterung, weil er der "Berliner Zeitung" sagte: "Ich habe gar keine Vorstellung, was so ein Stadtrat macht."
Die auf Zeit verbeamteten Stadträte sind als Verwaltungschefs unterhalb der Bezirksbürgermeister angesiedelt. Zuständig sind sie für Baugenehmigungen, Ordnungsämter, Schulgebäude, Jugendtreffs und Parks - aber auch für die Verteilung von Geld an politische Vereine und Initiativen.
So könnte die AfD direkt oder indirekt mitentscheiden über die Gelder für Flüchtlingsheime und Programme gegen Rechtsextremismus, sowie über die Träger von Jugendzentren und die Nutzung von Bezirkssportstätten."
(AfD darf in Bezirken mitregieren, Spiegel online 19.9.16)

Samstag, 17. September 2016

Chinesische Pläne zur Bürgerüberwachung

 Mirjam Meissner von Merics (Mercator Institute for China Studiesberichtet, China sei der erste Staat, der durch Internetüberwachung (Citizen Scoring) das Verhalten seiner Bürger lenken wolle.
Die Frankfurter Rundschau berichtet dazu (Eine Horrorvision wird Realität" FR 17.9.16), "Peking verheimlicht dabei nichts. [...] Schon die pure Existenz der Überwachung leiste dabei die halbe Arbeit - die Leute verhalten sich anders, wenn sie von dem Punktesystem wissen." Das Internet, das eine inoffizielle Diskussionskultur ermöglichte, sei zum Überwachungsinstrument geworden. "Was es an Freiräumen gibt, dient nun dazu, die Stimmung zu testen, [...] damit die staatlichen Computerprogramme sie auswerten und in die Bewertung einfließen lassen können." Die Auswertung läuft vollautomatisch über Algorithmen.

Mehr dazu:
 Mirjam Meissner: China’s Surveillance Ambitions

Donnerstag, 15. September 2016

Kershaw über Le Bon und die Massenpsychologie

"Dass Massenmobilisierung zur ernsthaften Bedrohung für diebestehende politische und soziale Ordnung werden könnte, regte den französischen Psychologen Gustave Le Bon dazu an, seine Analyse des Massenverhaltens zu publizieren: La psychologie des foules (1895, 1911 als Psychologie der Massen auf Deutsch erschienen ). Seine These, die Vernunft schwinde, wenn das Individuum den irrationalen, emotioalen Impulsen der Masse ausgesetzt wird, war zu Beginn des neuen Jahrhunderts einflussreich." (Ian Kershaw: Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, dva 2016, S.33)

Mittwoch, 14. September 2016

CETA

"Das Abkommen mit Kanada könnte TTIP durch die Hintertür einführen, denn es gibt Konzernen ebenso weitgehende Rechte", Der Freitag, 8.9.16

"Statt zu definieren, in welchen Bereichen CETA zur Anwendung kommt, gilt es, soweit nicht anders festgehalten, einfach für alle Bereiche. [...]
So gibt es bisher etwa keine eindeutigeDefinition, was die im CETA-Text genannte "öffentlichen Versorgungsdienstleistungen betrifft. Rekommunalisierung kann in den Grauzonen zu einem teureren Vorhaben werden. [...] CETA könnte den Weg der nachträglichen Regulierung deutlich erschweren. [...] Eigentlich sind aber sowohl CETA als auch TTIP "gemischte Abkommen". Das heißt, auch Bundesrat und Bundestag müssen neben EU-Kommission und EU-Parlament zustimmen." [Es ist aber geplant, sie zu übergehen.] Der Freitag, 8.9.16

SPD-Parteikonvent stimmt für CETA-Abkommen, ZEIT online 19.9.16 SPD-Parteikonvent: Gabriel setzt auf Kompromiss im Ceta-Streit SPON 19.9.16

Dienstag, 13. September 2016

Steuerwettbewerb in der EU und Gefahren, die mit dem Brexit drohen

Die EU wagt sich bei ihrer Forderung einer Steuernachzahlung von 13 Mrd. Euro von Apple nicht an die Forderung eines einheitlichen Steuersystems für den EU-Wirtschaftsraum heran.
Sie argumentiert nur damit, dass Wettbewerbsverzerrung vermieden werden müsse.
Bezeichnend, dass die irische Regierung die Nachzahlung nicht haben will, weil sie um den irischen Ruf als Steueroase fürchtet.
Dazu: "Peanuts und das Prinzip" in: der Freitag, 8.9.16

Zitate daraus:
"Der aktuelle Steuerstreit zeigt die Stärke wie die Schwäche der EU. Niemand außer ihr (vielleicht mit Ausnahme Chinas) wagt es im Augenblick, sich mit multinationalen Konzernen vom Kaliber Apple anzulegen. Kein Nationalstaat kann das auf sich allein gestellt. Aber niemand außer der EU hat es auch so schwer, sich gegenüber Apple, Starbucks, McDonald’s und so weiter durchzusetzen. Brüssel hat den schädlichen Steuerwettbewerb zwischen den EU-Mitgliedsländern mitnichten unter Kontrolle. "
" Doch kann ein europäischer Binnenmarkt (wie auch eine Währungsunion) auf Dauer nur funktionieren, wenn die Steuergesetze einigermaßen gleichförmig sind, bis hin zu Mindestsätzen für gleiche Steuerarten und gleiche Spielregeln für Steuerveranlagung und -erhebung. Die aber gibt es nicht, stattdessen ist Europa eine Region der Steueroasen für Investoren wie Privatanleger"

Montag, 12. September 2016

Können Russland und die USA Syrien befrieden? - Internationale Pressestimmen

Können Russland und die USA Syrien befrieden?

"In Syrien gibt es einen neuen Versuch für eine Waffenruhe: Assad-Armee und gemäßigte Rebellen sollen ihre Kämpfe von Montagabend an einstellen. Auf die Feuerpause haben sich die USA und Russland geeinigt und angekündigt, gemeinsam gegen islamistische Terroristen in dem Land zu kämpfen. Kommentatoren allerdings zeigen sich ob der Erfolgsaussichten größtenteils skeptisch."

Moskau und Washington verbindet die Einsicht 
Die russisch-amerikanische Zusammenarbeit in Syrien könnte erfolgreich sein, meint Adevărul (Rumänien) am 11.9.16:
 „Gerade jetzt, wo die Spannungen zwischen den USA und Russland zu einem offenen Konflikt auszuufern drohten, kommt überraschend die Botschaft, dass beide an einem gemeinsamen Plan arbeiten. ... Beiden Akteuren ist klar geworden, dass sie nicht bis ins Unendliche eine Landkarte verwalten können, auf der die Konflikte immer willkürlicher und immer häufiger werden, so dass am Ende beide Supermächte die Kontrolle über die Situation verlieren könnten. Ist dieses Abkommen ein Zeichen für eine bilaterale Einsicht (sie ähnelt der Logik in Zeiten des Kalten Krieges), die sich auch in anderen Konfliktregionen fortsetzen kann? … Vielleicht ja, wenn man sich die sofortige enthusiastische Reaktion der Uno ansieht, die die Umsetzung des Abkommens überwachen könnte. Es wäre auch eine Art Existenzberechtigung für die Uno, die auf internationaler Ebene so umstritten ist.“

THE GUARDIAN (GB) / 12. September 2016
 Retro-Strategie hilft in Syrien nicht weiter 
Der Konflikt in Syrien ist zu vielschichtig, als dass Washington und Moskau ein Ende der Kämpfe diktieren könnten, meint der Guardian:
 „Dass der Friedensplan von den USA und Russland unterzeichnet wurde, ist noch keine Erfolgsgarantie. Fast 25 Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion hat ein russisch-amerikanisches Abkommen zu einem Drittstaat etwas eindeutig Altmodisches an sich. Der syrische Bürgerkrieg mag sich zu einem größeren Krieg ausgeweitet haben. Doch es gibt viel mehr Akteure und Stellvertreter, die um Kriegsbeute ringen, als das in irgendeiner Auseinandersetzung im Kalten Krieg der Fall war. Washington und Moskau können nicht länger mit den Fingern schnippen und das Ende von Feindseligkeiten anordnen. ... Wie groß der Einfluss Russlands auf das Assad-Regime tatsächlich ist, ist fraglich. Das Gleiche gilt für den Einfluss der USA auf den Nato-Verbündeten Türkei, ganz zu schweigen von den verschiedenen bewaffneten Gruppierungen, die vom Westen unterstützt werden.“ 

NEUE ZÜRCHER ZEITUNG (CH) / 12. September 2016
Assads Taktik scheint aufzugehen
Als einen Etappensieg für Baschar al-Assad sieht die Neue Zürcher Zeitung den Waffenstillstand: „Mit keinem Wort erwähnt die Vereinbarung die Forderung nach seinem Rücktritt. Die Taktik des Machthabers scheint aufzugehen. Mit Belagerungen und Bombardierungen hat er Rebellenhochburgen in die Knie gezwungen, das Völkerrecht mit Füssen getreten und massgeblich zur Radikalisierung des Aufstands beigetragen. Dass sich die Amerikaner anscheinend damit abgefunden haben, dass Assad im Amt bleibt, ist vor allem für viele demokratische Aktivisten bitter - und es ist ein Armutszeugnis für Amerika. Russland hat mit der Vereinbarung erreicht, dass sich die Amerikaner auf den gemeinsamen Kampf gegen den syrischen Kaida-Ableger verpflichten. Aber was passiert, wenn sich die Rebellen von den gemeinsamen Frontlinien mit der Jabhat Fatah al-Sham zurückziehen? Sehen die Amerikaner dann zu, wie Assads Truppen in das Vakuum vorstossen?“

Sonntag, 11. September 2016

Merkel und die Presse

Mit leichtem Erschrecken habe ich einmal festgestellt, dass mich an Zeitungen die Meldungen immer weniger interessieren und ich meist bei den Kommentaren zu lesen anfange.
Inzwischen ist mir klar, dass ich das meiste, was mich an Nachrichten interessiert, schon am Vortag aufgenommen habe und daher der Kommentar das eigentlich Neue bringt.

Umso mehr stört mich, wenn ich bei Kommentaren eine Tendenz empfinde, dass ich in eine Richtung gedrängt werden soll. Wie jetzt bei den Sätzen von Thomas Kröter:
"Nun erlebt Merkel mit ihrer Flüchtlingspolitik ein Menetekel von alttestamentarischem Ausmaß. Wie dem babylonischen König Belsazar die berühmte Schrift an der Wand signalisieren der Kanzlerin die Kreuze für die AfD auf den Wahlzetteln, dass ihre Zeit abgelaufen ist. Sie hat die Bürger herausgefordert. Die Götter der modernen Demokratie bestrafen sie, wie es scheint, gnadenlos für den Frevel." (Schafft Merkel das?" FR 6.9.16)

Natürlich hat mich nach jahrzehntelangem Engagement in der Asylbewerberarbeit gefreut, dass ab August 2015 weit häufiger und weit verständnisvoller als zuvor über die Probleme von Flüchtlingen berichtet wurde. Weniger erfreulich fand ich die herablassende Abqualifizierung von Anhängern von Pegida und AfD. Etwas verstört war ich, wie einhellig die Zustimmung zu Merkels Entscheidungen war, ohne dass genügend darauf hingewiesen wurde, wie riskant sie war angesichts der Tatsache, dass die Aufgabe der Integration von Flüchtlingen jahrzehntelang vernachlässigt worden war. 

Der plötzliche Umschwung zu einer harschen Kritik an Merkels Entscheidung aber empört mich geradezu. 
Wie kann man kritiklos eine Entscheidung gutheißen und dann plötzlich so tun, als wäre das nicht gewesen? Nur weil einige Ereignisse (Kölner Silvesternacht, Terroranschläge und Amokläufe), die durch diese Entscheidung gewiss nicht verursacht und vermutlich nur marginal begünstigt wurden, zu einem Stimmungsumschwung in der Bevölkerung geführt haben?
Und dann diese an den Haaren herbeigezogene Behauptung, Merkels Flüchtlingspolitik habe zu einem Menetekel geführt, was impliziert, sie hätte einen Frevel begangen, als sie sich entschied, die rigide Abschottungspolitik der Festung Europa für ihren Teil zu beenden.
Seit wann sind die AfD-Wähler, die man noch wenige Monate zuvor als dumpfe Anhänger rechtspopulistischer Parolen verhöhnt hatte, plötzlich die "Götter der modernen Demokratie"?

21% der in Mecklenburg-Vorpommern abgegebenen Stimmen entfielen auf die AfD, rund 70% auf Parteien, die eine rigide Abschottung verwerfen. Und das soll ein Beweis sein, dass Merkels Entscheidung ein Frevel war?

Wenn sich der Mainstream der Medien über Wagenknechts begründete Kritik an Merkel aufregt und gleich darauf Merkel kritisiert, sie hätte unverantwortlich gehandelt, dann kann ich ihn nicht mehr zum Qualitätsjournalismus rechnen. Und Thomas Kröter, der - vermutlich ohne es zu merken - die AfD-Wähler zu den Göttern der Demokratie erhebt, schon gar nicht. 

Offenbar ist nicht nur in der CSU das Grundgesetz eine ungeliebte Pflichtlektüre, die man am liebsten gleich wieder verdrängt. 
Dass die Würde des Menschen zu achten, kein Frevel ist, das sollte man aber auch ohne intensives Grundgesetzstudium erkennen können. 

Dass Merkel keine Wege zur Integration der Flüchtlinge aufgezeigt, geschweige denn gebahnt hat, das darf man ihr gewiss vorwerfen. Deshalb aber zu behaupten, ihre Konkurrenten in der Union hätten, wie Kröter andeutet, bessere Führungsqualitäten, ist zumindest etwas kühn.

Gabriels Dilemma bei TTIP und Ceta

Gabriels Dilemma bei TTIP und Ceta, FR 6.9.16 

"[...] Regeln zum Umwelt- und Verbraucherschutz geraten durch Ceta auch unter Druck, weil Ceta mit dem Vorsorgeprinzip eine der wichtigsten europäischen Regeln bedroht. Auch die Einschränkung der Handlungsfreiheit von Kommunen sorgt für Empörung. Viele kommunale Räte haben längst Beschlüsse dagegen verfasst.
Keine einfache Entscheidung für die SPD so kurz vor der Wahl. Für Gabriel geht es um mehr als nur um die Sache. Sollte der SPD-Parteitag am 19. September ihm die Gefolgschaft verweigern, wäre er als Kanzlerkandidat schwer beschädigt.
Um dieses Dilemma zu lösen, greift er in die Trickkiste. Er stellt sich auf einmal gegen das noch umstrittenere TTIP-Abkommen. Die Verhandlungen mit den USA seien gescheitert – so seine neue Botschaft. Was das genau bedeutet, erklärt er nicht. Und es gibt keinen Grund, warum Gabriel so plötzlich seine Meinung zu TTIP ändern sollte.[...]"

Glaubwürdig ist Gabriel auf diese Weise nicht.

Mehr dazu:
Ceta
TTIP



Mittwoch, 7. September 2016

Gefährdung der Demokratie durch Konkurrenzdenken

Warum lügen und betrügen Wissenschaftler? Von Michael Hampe, 19. Mai 2016 (Der Philosoph Michael Hampe, lehrt an der ETH Zürich. Zuletzt erschien von ihm "Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik" im Suhrkamp Verlag.)
"Datenfälschungen haben den Ruf zahlreicher Universitäten beschädigt. Wie kann man der moralischen Entkernung der westlichen Demokratien entkommen?"

Die Argumentation von Hampe ist mir aus zwei Gründen wichtig:
Zum einen sehe ich eine gefährliche Verzettelung der Arbeitskraft von Wissenschaftlern, wenn ihre führenden Vertreter mehr und mehr damit beschäftigt sind, ihre Projekte als "exzellent" anerkennen zu lassen, und andererseits die Qualität fremder Projekte zu begutachten. Noch problematischer wird es, wenn der Umfang von Drittmitteln, die in der Privatwirtschaft angeworben worden sind, auch über die Vergabe öffentlicher Mittel entscheidet.
Freilich aus der Sicht eine Philosophen erscheint die Beurteilung von Projekten, die noch keine Ergebnisse erbracht haben, weit unsinniger als aus der Sicht von Naturwissenschaftlern, wo wie etwa beim CERN ein Projekt mehrere Milliarden kostet. 

Den zweiten Grund nenne ich im Anschluss an die hier vorgelegten Zitate aus Hampes Artikel.

"Man kann unter "Demokratie" mit John Dewey [...] ein gesellschaftliches (und nicht nur politisches) Projekt verstehen. In ihm versuchen egalitäre Gemeinschaften, sich in Autonomie so zu entwickeln, dass sie in der Lage sind, sich selbst Normen und Ziele zu geben. [...] Heute muss man feststellen, dass Demokratie im Deweyschen Sinne kaum noch ein lebendiges Projekt ist. [...]
Den "Kern" demokratischer Gesellschaften bilden individuelle Gewohnheitsmuster und gemeinschaftsbildende Zielvorstellungen, die es ermöglichen, demokratische Projekte und Institutionen mit Leben zu füllen."
"Die hier gemeinten demokratischen "Kernkompetenzen" sind erstens: die kognitive und emotionale Fähigkeit von Individuen, sich in die Perspektive anderer hineinzuversetzen. [...] (Empathie). 
Zweitens: die Anerkennung fremder Lebensentwürfe, die nicht den eigenen Vorstellungen folgen. Denn nur aufgrund solcher Anerkennung können aus einander fremden Lebensentwürfen neue gemeinschaftliche Projekte entstehen (Toleranz). 
Drittens die Kompetenz, wirtschaftlich und auf andere nicht private Weise Kooperationen auch mit Menschen einzugehen, die andere Lebensentwürfe als man selbst verfolgen (Vertrauen). 
Und schließlich viertens der Wille und die Kreativität, gemeinschaftliche Ziele zu entwickeln, die nicht nur die kurzfristigen Interessen der jeweils agierenden Einzelnen betreffen (langfristige, mehrere Generationen betreffende Teleologien).
In Konkurrenzgesellschaften ist die ursprünglich von Adam Smith mit vielen Einschränkungen und nur für das Wirtschaftsleben formulierte These, dass das Streben nach partikularem Eigennutz und die sich daraus ergebende Konkurrenz auf Märkten den allgemeinen Wohlstand fördere, praktisch zu einer metaphysischen Werttheorie umgedeutet worden. "
"Demokratie als soziales Projekt verschwindet. Denn den in Konkurrenzgesellschaften erfolgreich Erzogenen ist nicht verständlich zu machen, warum sie partikulare Interessen langfristigen Zielen unterordnen und sich für die Mithilfe am Erreichen langfristiger Ziele bilden sollen. Bildung wird vielmehr ebenfalls zu einer streng individuellen Investition in möglichst günstige Ausgangsbedingungen im allgemeinen Konkurrenzkampf."
"In der Wissenschaft gab es jedoch seit der modernen Aufklärung (also seit circa 1600) das Projekt der kollektiven Wahrheitssuche, exemplarisch formuliert in Newtons Aussage, er habe nur deshalb so weit sehen können, weil er auf den Schultern von Riesen stand; er meinte damit Galilei, Kepler und Kopernikus. Dieses kollektive Erkenntnisprojekt entstand aus der Einsicht, dass Wahrheit im Sinne eines sich auch praktisch bewährenden Verständnisses der Wirklichkeit nicht durch plötzliche Erleuchtung oder die richtige Entzifferung eines offenbarenden Textes, sondern nur durch mühsames, viele Generationen überdauerndes Nachdenken und Forschen zu gewinnen sei."
"Sofern akademische Ausbildungs- und Anreizsysteme vor allem Personen fördern und anstellen, die auf ihren persönlichen Erfolg in der Konkurrenz blicken, unterminieren sie selbst das Projekt moderner Wissenschaft: die generationenübergreifende Wahrheitssuche, für die nur Personen geeignet sind, die ihr eigenes Erkenntnisleben für das gemeinschaftliche Erkenntnisinteresse opfern können, etwa indem sie feststellen, dass alles, was sie bisher für wissenschaftlich richtig hielten, sich als falsch herausgestellt hat."
"Dies ist der Grund, warum wissenschaftliche Institutionen heute doppelzüngig auftreten und ein widersprüchliches Bild abgeben; ein Bild, das das Vertrauen der nicht wissenschaftlichen Öffentlichkeit in die Wissenschaft unterminiert: Einerseits geben sich Hochschulen und Akademien weiterhin als der generationenübergreifenden Wahrheitssuche und Problemlösung verpflichtet. Andererseits definieren sie ihren eigenen Erfolg gegenüber Geldgebern anhand von kurzfristig nachprüfbaren Siegen im Wettbewerb um Fördermittel, Studierende und berühmte Forscher und über den wirtschaftlichen Ertrag, den die Erkenntnis bei ihrer Umwandlung in Technologien den jeweiligen Gesellschaften vermeintlich sehr bald verspricht."
"Wie alle kollektiven Projekte, die in einer Gemeinschaft verfolgt werden und die über einen Zeitraum laufen, der die Lebensspanne der Einzelnen übertrifft, geben sie dem endlichen einzelnen Leben einen es selbst überschreitenden Horizont: Wer sich an diesen Projekten beteiligt, hat an etwas Anteil, was in Bedeutung und Dauer die eigene Existenz übertrifft. Aufgeklärte Wahrheitssuche und soziale Demokratie übernahmen deshalb Funktionen der Erlösungsreligionen: Sie gaben auf eine säkulare Weise einzelnem Leben einen überindividuellen Bezugsrahmen, der die Endlichkeit der partikularen Existenz auf tröstliche Weise relativierte."
Der "überindividuelle Bezugsrahmen", auf den Hampe hier hinweist, ist der zweite Grund, weshalb mir sein Artikel wichtig ist. 
Denn dieser Bezugsrahmen war es, der mich dazu brachte, bei der Wikipedia mitzuarbeiten. Denn Beiträge, die dort geleistet werden, scheinen mir zur langjährigen Qualitätsentwicklung dieser weltweit verbreiteten Enzyklopädie beizutragen. (Dies war auch der Grund, weshalb ich eine Zeit lang die Erstellung von Artikeln in Sprachen, die ich  nur unzureichend oder gar nicht beherrsche, angeregt habe, wie etwa im Fall Säureattentat [französischspanisch, niederländisch].)*

*Meine Benutzerseite in Bengali  Sie entstand (ohne mein Wissen), weil ich nachgesehen habe, wann der Artikel Säureattentat in Bengali entstand (2013). Der über die Acid Survivor Foudation entstand schon 2006, in dem Jahr, wo ich anfing, Artikel zu Säureattentat in anderen Wikipediasprachsektionen anzulegen. Einen in Bengali anzulegen hätte ich mich nie getraut. Außerdem hätte ich nicht gedacht, dass es den noch nicht gab. Denn Monira Rahman, die Gründerin der Acid Survivor Foundation, ist Bürgerin von  Bangladesch.

Integration von Flüchtlingen

Integration: Wenn Mohammed Isa trifft12. Mai 2016


"Eine Million Neuankömmlinge unterzubringen, zu versorgen und in die Gesellschaft zu integrieren ist eine große und kleinteilige Aufgabe zugleich. Sie gleicht einem 100.000-Teile-Puzzle, bei dem einerseits der Überblick nicht verloren gehen darf, andererseits aber sehr genau darauf geachtet werden muss, welches Teilchen wirklich wohin passt. Deshalb ist es so wichtig, dass alle Informationen rund um die Flüchtlinge an einem Ort zusammenkommen.
Bloß: Diesen Ort gibt es nicht. Und auch nicht die große, elektronische Deutschlandkarte."
Wohnen:
"In Dortmund leben 6.400 Asylbewerber, gut die Hälfte in Wohnungen, die anderen in Massenunterkünften. Trotzdem reicht die Zahl der verfügbaren Räumlichkeiten seriöser Anbieter bei Weitem nicht aus. Und das im mittelgroßen und mittelbegehrten Dortmund. Wie geht es erst in Großstädten wie Berlin oder Hamburg zu?"
Sprechen:
"Vier Flüchtlingsgruppen dürfen den Integrationskurs beginnen, noch bevor ihr Asylverfahren überhaupt entschieden ist: Syrer, Eritreer, Iraker und Iraner. Sie haben die besten Chancen, in Deutschland Schutz zu finden, deshalb werden sie bevorzugt. Alle anderen müssen den erfolgreichen Abschluss ihres Verfahrens abwarten. Doch selbst für die eingeschränkte Zahl der Privilegierten reichen die Kurse derzeit nicht aus: Bundesweit fehlen über 200.000 Plätze, schätzt Frank-Jürgen Weise, der Chef des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Die Wartezeiten sind lang. Wie lang durchschnittlich? Keiner weiß es."
Arbeiten:
"Die meisten Flüchtlinge, die es nach Deutschland schafften, haben eine bedürftige Familie irgendwo in den Lagern in der Türkei oder in Jordanien. Die wollen und müssen sie finanziell unterstützen. So schnell wie möglich. Ein Jahr Sprachkurs und dann drei Jahre Ausbildung? Wer kann sich das leisten? Die Leute haben Schulden gemacht, um die Schlepper zu bezahlen, ihre Eltern und Geschwister hocken bei Regen und Wind in Flatterzelten und hängen am Rationen-Tropf der UN-Flüchtlingshilfe."
"Es gibt in Berlin, aber auch in vielen anderen deutschen Großstädten, einen geheimen Arbeitsmarkt für Einwanderer, der die Bedürfnisse der Flüchtlinge nach schnellem Geld befriedigt – keine Bürokratie, keine Wartezeiten, sondern Geld in bar. Doch sind die Flüchtlinge erst einmal in solch prekären Jobs gelandet, rückt ihre Integration in weite Ferne. Deutschkenntnisse? Warum denn? In den Döner- und Falafelbuden braucht es so was nicht. [...]
Aber wer einen jungen Syrer ohne Deutschkenntnisse zum Facharbeiter machen will, braucht dafür fünf bis sechs Jahre, heißt es bei der BA – nicht bloß drei, wie bei einem deutschen Azubi."
Lieben:
"Gäbe es eine Sendung mit dem Namen "Deutschland sucht den Superflüchtling": Mohammed käme ins Finale.
Seit einem Jahr und acht Monaten lebt er hier. Seither hat er alles, was erfolgreiche Integration ausmacht, in Rekordzeit durchlaufen. Er spricht fließend Deutsch. Er hat einen Ausbildungsplatz zum Industriemechaniker, im September geht es los. Seit fünf Monaten geht er zur Einstiegsqualifizierung, einer Art Praktikum, das den Start in den Betrieb erleichtern soll. Acht Monate hat der Syrer in einem Flüchtlingsheim gewohnt, dann in einem kleinen Zimmer in der Stadt, und gerade ist er wieder umgezogen, in eine Zweizimmerwohnung, zusammen mit Isa."
"Mohammed ist richtig integriert, seit er mit Isa zusammen ist. Alles, was er heute hat – Wohnung, Job und deutsche Freunde –, hat er auch durch sie. Die Liebe zu einer Deutschen öffnete ihm die Türen der Einheimischen. Und auf offene Türen kommt es an. Bekanntschaften, Freundschaften, Nachbarschaften – eben Beziehungen zwischen Menschen verschiedener Kulturkreise – sind für die Integration entscheidend. Sie sind das Kostbarste und Schwierigste, und dafür hat die Politik noch gar kein Rezept."
Wie fördert man Integration?
"Sanktionen für Integrationsverweigerer sind wichtig, aber ebenso wichtig ist es, dass der Staat seine Aufgaben erfüllt. Offiziell beträgt die Dauer der Asylverfahren im Schnitt 5,2 Monate, faktisch ist es ein Dreivierteljahr und mehr. 400.000 unbearbeitete Asylanträge stapeln sich beim Bamf. Hunderttausende Flüchtlinge sind registriert, haben aber noch kein Asyl beantragt. "Wir sind in Not", sagt Bamf-Chef Weise, seine Behörde müsse dieses Jahr eine Million Asylentscheidungen treffen.
Extrem langwierig sind die Asylverfahren der Flüchtlinge aus Afghanistan (15,4 Monate), Iran (18,0 Monate) und Somalia (18,3 Monate) – trotz hoher Anerkennungsquoten. Um rasch gesunkene Asylbewerberzahlen präsentieren zu können, kümmert sich das Bamf vor allem um jene Fälle, die garantiert abgelehnt werden. Das Leben der Afghanen, Iraner und Somalier aber pausiert zwei Jahre – verlorene Zeit für die Integration."
Mehr dazu im Artikel

Vergleiche auch: Lehrer und die Einwanderungsgesellschaft

Dienstag, 6. September 2016

Wird Merkel ihren Kurs ändern?

Internationale Pressestimmen dazu

Wer für Menschenrechte ist und keine Flüchtlinge akzeptieren will, liegt meiner Meinung weit weniger richtig als Merkel. Auch wenn ihr Kurs in sich widersprüchlich ist, weil sie zwar davon spricht, dass wir das schaffen, aber selbst zu wenig für Integration tut und mit dem Türkeideal nur Zeit gekauft hat, die einerseits zu dem trügerischen Gefühl führt, wir hätten jetzt genug für die Flüchtlinge getan und es wären zu viele Aufnahmelager für die vorhanden, andererseits aber eine Abhängigkeit von einem Autoritären, der seine Opposition unterdrückt geschaffen hat. 

Merkel müsste mehr Solidarität von den Unternehmern einfordern und gegebenenfalls per Steuerregelung staatlich erzwingen und damit die Basis für eine großzügige Integrationspolitik und ein modernes Einwanderungsgesetz schaffen. Dabei sollte durchaus formuliert werden, welchen Umfang an Einwanderung man anstrebt, ohne eine Festlegung auf eine "Obergrenze", da die zu einem Automatismus der Grenzschließung führen würde.
Sie müsste also ihren Kurs ändern, aber nicht in Richtung Abschottung, sondern in Richtung gezielte Integration.

Vergleiche dazu auch:

Samstag, 3. September 2016

Wie entkommt Griechenland der Arbeitslosigkeit? - griechische Pressestimmen

"Mit fast 24 Prozent hat Griechenland weiterhin die höchste Arbeitslosenquote in der EU, hat die Statistikbehörde Eurostat am Donnerstag berichtet. Der IWF prophezeit in einer Studie, dass auch in den kommenden Jahrzehnten kaum Besserung in Sicht ist. Während einigen griechischen Kommentatoren die Lage ausweglos erscheint, fordern andere, dass sich Arbeitssuchende besser an den Markt anpassen." (Wie entkommt Griechenland der Arbeitslosigkeit?)

Kreditgeber haben Land zum Tode verurteilt: Die Sparauflagen für Griechenland sind wie ein nicht enden wollender Alptraum, aus dem das Land noch lange nicht erwachen wird, klagt die Tageszeitung Dimokratia

 Arbeitslose müssen sich Arbeitsmarkt anpassen: Nicht nur die Wirtschaftslage ist schuld an der hohen Arbeitslosigkeit in Griechenland, meint I Kathimerini