Donnerstag, 4. Januar 2018

Hannah Arendt über Freiheit und Revolution

Hannah Arendt : Die Freiheit, frei zu sein (1966/67; veröffentlicht in ZEIT 4.1.2018)

"[...] 
Allgemein gesprochen ist eine Revolution gar nicht möglich, wenn die Autorität des Staatswesens intakt ist, was unter neuzeitlichen Bedingungen heißt: wenn man darauf vertrauen kann, dass die Streitkräfte der staatlichen Obrigkeit gehorchen. Revolutionen sind keine notwendige, sondern eine mögliche Antwort auf den Niedergang eines Regimes, sie sind nicht Ursache, sondern Folge des Verfalls politischer Autorität. Überall dort, wo sich diese Auflösungsprozesse – üblicherweise über einen längeren Zeitraum – ungehindert vollziehen konnten, kann es zu Revolutionen kommen, vorausgesetzt, es gibt eine ausreichend große Bevölkerung, die bereit ist für den Zusammenbruch eines Regimes und gewillt, die Macht zu übernehmen. 
[...] ist es der Wunsch, der Beste zu sein, der dafür sorgt, dass Menschen die Gesellschaft von ihresgleichen lieben und in den öffentlichen Bereich getrieben werden. Diese öffentliche Freiheit ist eine handfeste lebensweltliche Realität, geschaffen von Menschen, um in der Öffentlichkeit gemeinsam Freude zu haben – um von anderen gesehen, gehört, erkannt und erinnert zu werden. Und diese Art von Freiheit erfordert Gleichheit, sie ist nur unter seinesgleichen möglich. Institutionell gesehen ist sie allein in einer Republik möglich, die keine Untertanen und, streng genommen, auch keine Herrscher kennt. Aus diesem Grund spielten Diskussionen über die Staatsform – in deutlichem Gegensatz zu den späteren Ideologien – im Denken und in den Schriften der ersten Revolutionäre eine so bedeutsame Rolle. [...]
Eine der wichtigsten Konsequenzen der Revolution in Frankreich war es, dass sie zum ersten Mal in der Geschichte le peuple auf die Straßen brachte und sichtbar machte. Als das geschah, stellte sich heraus, dass nicht nur die Freiheit, sondern auch die Freiheit, frei zu sein, stets nur das Privileg einiger weniger gewesen war. Aus dem gleichen Grund jedoch blieb die Amerikanische Revolution weitgehend folgenlos für das historische Verständnis von Revolutionen, während die Französische Revolution, die krachend scheiterte, bis heute bestimmt, was wir heute als revolutionäre Tradition bezeichnen. Das ursprüngliche Ziel der Revolution war, wie schon gesagt, Freiheit im Sinne der Abschaffung persönlicher Herrschaft [...]. Herrschaft bezog ihre größte Legitimation [...] aus dem menschlichen Wunsch, die Menschheit von den Lebensnotwendigkeiten zu emanzipieren; um das zu erreichen, bedurfte es der Gewalt, der Zwangsmittel, damit viele die Last der wenigen trugen, sodass zumindest einige frei sein konnten. Das – und nicht die Anhäufung von Reichtum – war der Kern der Sklaverei, zumindest in der Antike, und es ist lediglich dem Aufkommen moderner Technik [...] geschuldet, dass sich diese Situation der Menschen zumindest in einigen Teilen der Welt geändert hat. [...]
Ich möchte noch einmal an den Novus Ordo Saeclorum erinnern. Diese überraschende Wendung stammt von Vergil, in dessen Vierter Ekloge es heißt: Magnus ab integro saeclorum nascitur ordo ("aufs neue hebt an die große Folge der Zeiten"), und zwar in diesem Fall mit der Herrschaft des Augustus. Vergil spricht hier von einer großen (magnus), aber nicht von einer neuen (novus) Ordnung, und diese Änderung in einem Vers, der über die Jahrhunderte viel zitiert wurde, ist charakteristisch für die Erfahrungen der Neuzeit. Für Vergil ging es – nunmehr in der Sprache des 17. Jahrhunderts – darum, Rom "aufs Neue", aber nicht ein "neues Rom" zu gründen. Damit entging er in typisch römischer Manier der gefürchteten Gefahr der Gewalt, die dem Bruch mit der Tradition Roms, also der überlieferten (traditio) Gründungsgeschichte der Ewigen Stadt, innewohnte, wenn man einen Neuanfang propagierte. [...]
Was die Männer der Revolution auf gerade dieses antike Gedicht zurückgreifen ließ, war, neben ihrer Bildung, meiner Ansicht nach die Tatsache, dass nicht nur die vorrevolutionäre Idee der Freiheit, sondern auch die Erfahrung, frei zu sein, mit dem Beginn von etwas Neuem, mit – metaphorisch gesprochen – der Geburt eines neuen Zeitalters zusammenfiel, oder besser: eng damit verwoben war. Man hatte das Gefühl: Frei zu sein und etwas Neues zu beginnen war das Gleiche. [...]  der Sinn von Revolution ist die Verwirklichung eines der größten und grundlegendsten menschlichen Potenziale, nämlich die unvergleichliche Erfahrung, frei zu sein für einen Neuanfang, woraus der Stolz erwächst, die Welt für einen Novus Ordo Saeclorum geöffnet zu haben.
(Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein, ZEIT 4.1.2018)

sieh auch: H. Arendt im Gespräch mit Günter Gaus

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