Donnerstag, 8. Februar 2018

Günter Gaus befragt Sarah Wagenknecht (2004)

"Gaus:
Sind Sie eine geborene Dissidentin, Frau Wagenknecht? Als Sie in der DDR 1988 nach dem Abitur studieren wollten, hat man Ihnen gesagt, Sie sollten zunächst einmal lernen, sich in ein Kollektiv einzufügen. Sind Sie eine geborene Dissidentin?

Wagenknecht:
Ich glaube, geboren wird man dazu nicht. Also, ich würde mir wünschen, in einer Gesellschaft zu leben, wo ich nicht Dissident sein müsste. Ich denke nur, man muss – und vielleicht hat das etwas mit geboren, mit Anlage zu tun – ich würde mich nie verbiegen, wenn die Gesellschaft halt anders ist. Ich denke schon, dass jeder das Bedürfnis hat, lieber in Übereinstimmung mit seiner Umgebung zu leben, als in Kontrast zu ihr. Es ist ja auch viel anstrengender. Es ist auch nicht etwas, was einem in jeder Hinsicht immer besondere Erfolgserlebnisse bringt, wenn man sich gegen sehr viel stellt. Aber ich denke letztlich – also wie gesagt, ich hoffe auch noch mal eine Gesellschaft zu erleben, in der ich nicht Dissident sein muss. [...]

Wenn sich viele Leute wehren, dann ist auch ein Druckpotential da, das natürlich Politik beeinflusst. Und so sind ja auch historisch diesem Kapitalismus alle sozialen Rechte abgerungen worden, von denen er sich zur Zeit wieder befreit. Das war ja nichts, was als Großzügigkeit irgendwann zugestanden wurde. Also angefangen von Bismarck war es immer die Drohung - damals noch einer wirklich revolutionären Sozialdemokratie - die Drohung, dass dann sozusagen ja Widerstandbewegungen stärker werden, die dazu geführt hat, dass man bestimmte soziale Rechte letztlich dann doch umgesetzt hat. [...]

Also, die SPD [in Berlin] hat uns ja nicht deswegen, also wollte nicht deswegen mit uns koalieren, weil sie, weil wenigstens dieser gemeinsame Wille da war, sozialere Politik in Berlin - bei allen Beschränkungen und bei allen Engpässen, die es da gab - so umzusetzen. Sondern, ich hatte von Anfang an das Gefühl - und das haben auch bestimmte SPD-Strategen sehr deutlich gesagt - es ging darum, eine Partei, die im Ostteil Berlins fast 50% hatte, dadurch, dass man sie in die Regierung hineinnimmt, im Grunde als Opposition, als Protestpartei, als Mobilisierungsfaktor von Protest auszuschalten und dadurch diese rigide Sparpolitik durchzusetzen, die überhaupt nicht notwendig ist. Also, es ist ja auch nicht wirklich Sparpolitik. Es ist eben - in einem Bereich spart man; da wo keine Lobbys sind. Und in anderen Bereichen - zum Beispiel bezogen auf diese gesamten unsäglichen Immobilienfonds - wird eben nicht gespart, da wird immer noch Geld rein gesteckt. Und das ist eben etwas, wo sehr viele Leute, denke ich, mit Recht sagen: ‚Ja, dafür haben wir doch die PDS nicht gewählt’."


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