"Das neue Maß der Dinge sind die authentischen Subjekte mit originellen Interessen und kuratierter Biografie, aber auch die unverwechselbaren Güter und Events, Communities und Städte. Spätmoderne Gesellschaften feiern das Singuläre. Ausgehend von dieser Diagnose, untersucht Andreas Reckwitz den Prozess der Singularisierung, wie er sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Ökonomie, Arbeitswelt, digitaler Technologie, Lebensstilen und Politik abspielt."
Die Standardmärkte für funktionale Massengüter der Industriemoderne, die sich auch als Preis- und Leistungsmärkte charakterisieren lassen, verändern so in der Spätmoderne ihre Form und werden »mehr und mehr durch kulturelle Märkte abgelöst« (147).[1] In der Spätmoderne konkurrieren die Güter primär um Sichtbarkeit und Anerkennung, das Verhältnis von Gütern und Konsumenten bzw. Publikum ist ein affektives, d. h. Singularitätsmärkte sind primär Aufmerksamkeits- und Attraktivitätsmärkte, die von kultureller Valorisierung leben. Für die Singularitätsmärkte ist dabei die Überproduktion von Gütern konstitutiv, zudem sind sie hochgradig spekulativ und ubiquitär. Zum einen lässt sich nach Reckwitz eine allgemeine Kulturökonomisierung des Sozialen beobachten, die immer mehr Segmente der Gesellschaft den Imperativen der Singularitätsmärkte unterwirft – bspw. Bildungsinstitutionen, Partnerschaften, Religionen usf. (152f.).[1] Zum anderen sind diese durch ein hohes Maß an Unsicherheit geprägt, denn »Aufmerksamkeitsströme, gelungene Überraschung und Wertzuschreibung entziehen sich einer Planung und Steuerung« (161).[1] Aufmerksamkeit und Wertschätzung sind darüber hinaus zumeist sehr asymmetrisch verteilt; die Singularitätsmärkte basieren auf strukturell riskanten und entgrenzten Winner-take-all-Wettbewerben. Sie teilen dabei wesentliche Strukturmerkmale mit dem Feld der Kunst und den creative industries, die dem kulturellen Singularitätskapitalismus der Spätmoderne als »strukturelle Blaupause« dienen (155).[1]"
Reckwitz im Interview: "Historischer Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und Linksliberalismus" L.I.S.A. 25.9.2018
" Die Ökonomisierung oder Vermarktlichung des Sozialen, die ich in meinem Buch ausführlich unter die Lupe nehme, hat eine Eigendynamik gewonnen, die weit über den Einfluss der neoliberalen Politik hinausgeht. Vor allem muss man sehen, dass die Vermarktlichung häufig eng mit Singularisierungsprozessen zusammenhängt, so dass hier das stattfindet, was ich 'Kulturökonomisierung' nenne: ein Wettbewerb um Einzigartigkeit und eigenen Wert - und damit gerade nicht mehr nur ein Wettbewerb um das, was billig oder effizient ist. Diese Kulturökonomisierung ist gerade keine 'weichere' Vermarktlichung, sondern eine härtere, noch kompetitivere, bei denen es zu Winner take the most-Strukturen kommt, wie man sie gerade aus der Kunst, dem Showbusiness oder dem Sport kennt. Neben dem Einfluss der neoliberalen Politik sehe ich vor allem drei Bedingungsfaktoren der Kulturökonomisierung: der Strukturwandel der Ökonomie selbst in Richtung einer 'creative economy', welche die Winner take the most-Strukturen vorantreibt; die Digitalisierung, die eine riesige Aufmerksamkeitsökonomie im weitesten Sinne entstehen lässt; schließlich die Selbstentfaltungsrevolution der Lebensstile: die Subjekte vor allem in der neuen Mitteklasse wollen wählen, zwischen Partnern, Wohnorten, Bildungseinrichtungen, weil sie meinen, nur so den eigenen Bedürfnissen und Wünschen zu folgen. Es gibt hier also auch einen kulturellen Antrieb für die Vermarktlichungsprozesse, wobei die verschiedenen Bedingungsfaktoren in einem komplexen Verhältnis zueinander stehen. [...]
Auf der einen Seite erleben wir deutliche Emanzipationsgewinne, vor allem was die Gleichberechtigung der Geschlechter oder von Minderheiten (z.B. Schwule und Lesben angeht), auch eine größere Wertschätzung kultureller Diversität; die Konsummärkte florieren, technologische Umwälzungen sind gefördert worden. Das ist die Haben-Seite. Auf der anderen Seite jedoch sind problematische Folgen deutlich geworden: der Neoliberalismus hat durch seine Arbeitsmarktpolitik einen Niedriglohnsektor entstehen lassen und damit soziale Ungleichheiten verschärft, öffentliche Einrichtungen wie Schulen, sozialer Wohnungsbau oder Infrastruktur wurden häufig vernachlässigt; auch der Linksliberalismus bringt Probleme mit sich: so die Gefahren einer Fragmentierung der Gesellschaft, wenn das Gemeinwohlinteresse unter die Räder der Rechte der Individuen und Gruppen (Stichwort: Überdehnung der identity politics) gerät. Es sind gerade diese negativen Folgen, die den neuen Liberalismus inzwischen in eine Krise geführt haben, und man wird sehen, ob und wie er sich angesichts des Aufstiegs des Populismus reformieren lässt oder er durch etwas ganz anderes, Neues abgelöst wird (was ich im Moment allerdings nicht sehe). [...]
Aber aus einer Paradoxie werden wir nicht herauskommen: die gesellschaftliche Entwicklung hat in der Ökonomie, der Technologie, der Kultur, der Sozialstruktur eine Eigendynamik, die sich strikter politischer Planung entzieht, und trotzdem müssen wir versuchen, zumindest eine gewisse politische Regulierung hineinzubringen. Also eine Balance zwischen der Logik des Besonderen und des Allgemeinen. Das ist eigentlich eine Aufgabe der Moderne seit ihrem Beginn."
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