Mittwoch, 7. September 2016

Gefährdung der Demokratie durch Konkurrenzdenken

Warum lügen und betrügen Wissenschaftler? Von Michael Hampe, 19. Mai 2016 (Der Philosoph Michael Hampe, lehrt an der ETH Zürich. Zuletzt erschien von ihm "Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik" im Suhrkamp Verlag.)
"Datenfälschungen haben den Ruf zahlreicher Universitäten beschädigt. Wie kann man der moralischen Entkernung der westlichen Demokratien entkommen?"

Die Argumentation von Hampe ist mir aus zwei Gründen wichtig:
Zum einen sehe ich eine gefährliche Verzettelung der Arbeitskraft von Wissenschaftlern, wenn ihre führenden Vertreter mehr und mehr damit beschäftigt sind, ihre Projekte als "exzellent" anerkennen zu lassen, und andererseits die Qualität fremder Projekte zu begutachten. Noch problematischer wird es, wenn der Umfang von Drittmitteln, die in der Privatwirtschaft angeworben worden sind, auch über die Vergabe öffentlicher Mittel entscheidet.
Freilich aus der Sicht eine Philosophen erscheint die Beurteilung von Projekten, die noch keine Ergebnisse erbracht haben, weit unsinniger als aus der Sicht von Naturwissenschaftlern, wo wie etwa beim CERN ein Projekt mehrere Milliarden kostet. 

Den zweiten Grund nenne ich im Anschluss an die hier vorgelegten Zitate aus Hampes Artikel.

"Man kann unter "Demokratie" mit John Dewey [...] ein gesellschaftliches (und nicht nur politisches) Projekt verstehen. In ihm versuchen egalitäre Gemeinschaften, sich in Autonomie so zu entwickeln, dass sie in der Lage sind, sich selbst Normen und Ziele zu geben. [...] Heute muss man feststellen, dass Demokratie im Deweyschen Sinne kaum noch ein lebendiges Projekt ist. [...]
Den "Kern" demokratischer Gesellschaften bilden individuelle Gewohnheitsmuster und gemeinschaftsbildende Zielvorstellungen, die es ermöglichen, demokratische Projekte und Institutionen mit Leben zu füllen."
"Die hier gemeinten demokratischen "Kernkompetenzen" sind erstens: die kognitive und emotionale Fähigkeit von Individuen, sich in die Perspektive anderer hineinzuversetzen. [...] (Empathie). 
Zweitens: die Anerkennung fremder Lebensentwürfe, die nicht den eigenen Vorstellungen folgen. Denn nur aufgrund solcher Anerkennung können aus einander fremden Lebensentwürfen neue gemeinschaftliche Projekte entstehen (Toleranz). 
Drittens die Kompetenz, wirtschaftlich und auf andere nicht private Weise Kooperationen auch mit Menschen einzugehen, die andere Lebensentwürfe als man selbst verfolgen (Vertrauen). 
Und schließlich viertens der Wille und die Kreativität, gemeinschaftliche Ziele zu entwickeln, die nicht nur die kurzfristigen Interessen der jeweils agierenden Einzelnen betreffen (langfristige, mehrere Generationen betreffende Teleologien).
In Konkurrenzgesellschaften ist die ursprünglich von Adam Smith mit vielen Einschränkungen und nur für das Wirtschaftsleben formulierte These, dass das Streben nach partikularem Eigennutz und die sich daraus ergebende Konkurrenz auf Märkten den allgemeinen Wohlstand fördere, praktisch zu einer metaphysischen Werttheorie umgedeutet worden. "
"Demokratie als soziales Projekt verschwindet. Denn den in Konkurrenzgesellschaften erfolgreich Erzogenen ist nicht verständlich zu machen, warum sie partikulare Interessen langfristigen Zielen unterordnen und sich für die Mithilfe am Erreichen langfristiger Ziele bilden sollen. Bildung wird vielmehr ebenfalls zu einer streng individuellen Investition in möglichst günstige Ausgangsbedingungen im allgemeinen Konkurrenzkampf."
"In der Wissenschaft gab es jedoch seit der modernen Aufklärung (also seit circa 1600) das Projekt der kollektiven Wahrheitssuche, exemplarisch formuliert in Newtons Aussage, er habe nur deshalb so weit sehen können, weil er auf den Schultern von Riesen stand; er meinte damit Galilei, Kepler und Kopernikus. Dieses kollektive Erkenntnisprojekt entstand aus der Einsicht, dass Wahrheit im Sinne eines sich auch praktisch bewährenden Verständnisses der Wirklichkeit nicht durch plötzliche Erleuchtung oder die richtige Entzifferung eines offenbarenden Textes, sondern nur durch mühsames, viele Generationen überdauerndes Nachdenken und Forschen zu gewinnen sei."
"Sofern akademische Ausbildungs- und Anreizsysteme vor allem Personen fördern und anstellen, die auf ihren persönlichen Erfolg in der Konkurrenz blicken, unterminieren sie selbst das Projekt moderner Wissenschaft: die generationenübergreifende Wahrheitssuche, für die nur Personen geeignet sind, die ihr eigenes Erkenntnisleben für das gemeinschaftliche Erkenntnisinteresse opfern können, etwa indem sie feststellen, dass alles, was sie bisher für wissenschaftlich richtig hielten, sich als falsch herausgestellt hat."
"Dies ist der Grund, warum wissenschaftliche Institutionen heute doppelzüngig auftreten und ein widersprüchliches Bild abgeben; ein Bild, das das Vertrauen der nicht wissenschaftlichen Öffentlichkeit in die Wissenschaft unterminiert: Einerseits geben sich Hochschulen und Akademien weiterhin als der generationenübergreifenden Wahrheitssuche und Problemlösung verpflichtet. Andererseits definieren sie ihren eigenen Erfolg gegenüber Geldgebern anhand von kurzfristig nachprüfbaren Siegen im Wettbewerb um Fördermittel, Studierende und berühmte Forscher und über den wirtschaftlichen Ertrag, den die Erkenntnis bei ihrer Umwandlung in Technologien den jeweiligen Gesellschaften vermeintlich sehr bald verspricht."
"Wie alle kollektiven Projekte, die in einer Gemeinschaft verfolgt werden und die über einen Zeitraum laufen, der die Lebensspanne der Einzelnen übertrifft, geben sie dem endlichen einzelnen Leben einen es selbst überschreitenden Horizont: Wer sich an diesen Projekten beteiligt, hat an etwas Anteil, was in Bedeutung und Dauer die eigene Existenz übertrifft. Aufgeklärte Wahrheitssuche und soziale Demokratie übernahmen deshalb Funktionen der Erlösungsreligionen: Sie gaben auf eine säkulare Weise einzelnem Leben einen überindividuellen Bezugsrahmen, der die Endlichkeit der partikularen Existenz auf tröstliche Weise relativierte."
Der "überindividuelle Bezugsrahmen", auf den Hampe hier hinweist, ist der zweite Grund, weshalb mir sein Artikel wichtig ist. 
Denn dieser Bezugsrahmen war es, der mich dazu brachte, bei der Wikipedia mitzuarbeiten. Denn Beiträge, die dort geleistet werden, scheinen mir zur langjährigen Qualitätsentwicklung dieser weltweit verbreiteten Enzyklopädie beizutragen. (Dies war auch der Grund, weshalb ich eine Zeit lang die Erstellung von Artikeln in Sprachen, die ich  nur unzureichend oder gar nicht beherrsche, angeregt habe, wie etwa im Fall Säureattentat [französischspanisch, niederländisch].)*

*Meine Benutzerseite in Bengali  Sie entstand (ohne mein Wissen), weil ich nachgesehen habe, wann der Artikel Säureattentat in Bengali entstand (2013). Der über die Acid Survivor Foudation entstand schon 2006, in dem Jahr, wo ich anfing, Artikel zu Säureattentat in anderen Wikipediasprachsektionen anzulegen. Einen in Bengali anzulegen hätte ich mich nie getraut. Außerdem hätte ich nicht gedacht, dass es den noch nicht gab. Denn Monira Rahman, die Gründerin der Acid Survivor Foundation, ist Bürgerin von  Bangladesch.

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