Dienstag, 7. Januar 2025

Grönland auf dem Weg zu Selbständgkeit?

 Michael Paul: Grönlands arktische Wege zur Unabhängigkeit, Stiftung Wissenschaft und Politik

"[...] Die mit dem Krieg gegen die Ukraine einhergehende Schwächung führt in der Tat dazu, dass Moskau die Arktische Zone der Russischen Föderation in einem Maße geöffnet hat, das früher unvorstellbar gewesen wäre. Die zwischen chinesischer Küstenwache und russischem Grenzschutz im April 2023 in Murmansk vereinbarte Zusammen­arbeit in der Nördlichen Seeroute81 hat Signalcharakter, darf aber auch nicht überschätzt werden, denn beide Länder haben unterschiedliche Interessen in der Arktis.82

Allerdings hatte Dänemark selbst großen Anteil an chinesischen Aktivitäten: Im Gegensatz zu Moskau und Washington hat Kopenhagen schon früh einen Beobachterstatus der Volksrepublik im Arktischen Rat unterstützt, um Investitionen aus Asien zu fördern. [...]

In Grönland ist die Zahl der Flugreisenden nach dem pandemiebedingten Ein­bruch 2020 auf 85.484 (2022) gestiegen und wird mit der Eröffnung der Flughäfen 2024 in Nuuk, 2025 in Ilulissat und 2026 in Qaqortoq weiter zunehmen. Speziell der Flughafen Ilulissat wird den Tourismus fördern, denn südlich der Stadt verläuft der in die Diskobucht mündende Eisfjord, der seit 2004 UNESCO-Weltnaturerbe ist. Grönland ist aber auf eine zuneh­mende Touristenzahl noch schlechter vorbereitet als das wohlhabende Norwegen.160 Die lokale Infra­struktur in Ilulissat kann derzeit weder wachsenden Tourismus verkraften, noch ist die empfindliche arktische Flora, darunter Geflechte und Zwergweiden, entlang dem Gletscher geschützt.161 [...]

Such- und Rettungsaktionen außerhalb der Ortschaften an der Westküste Grönlands sind, wie eingangs bemerkt, »praktisch unmöglich«.163 Derart begrenzte Fähigkeiten gelten auch für maritime Einsätze. Zugleich navigieren immer mehr Kreuzfahrtschiffe durch die weitgehend unkartierten Gewässer der Arktis.164 Zuletzt lief das Schiff Ocean Explorer mit 206 Passagieren an Bord im September 2023 im Alpefjord an der Nordostküste Grönlands auf Grund. Das nächstgelegene dänische Schiff befand sich 2200 Kilometer entfernt.165 In diesem Fall waren keine Schiffbrüchigen zu bergen, und laut JACO war kein Leben gefährdet, aber in Zukunft sind Unglücksfälle nicht auszuschließen. [...] 

Die Firma Kerecis ist Islands erstes »Unicorn«-Startup-Unter­nehmen, das für eine Milliarde US-Dollar an einen dänischen Medizinkonzern verkauft wurde. Es verwendet ein Nebenprodukt der Fischereiindustrie, das früher entsorgt wurde, nämlich die Haut des Kabeljaus (und ist daher eigentlich ein »Unicod«).168 Das daraus entwickelte Produkt kann nicht nur menschliche Wunden schützen und regenerieren, sondern auch beschädigtes Gewebe von Diabetes-Kranken heilen.169[...]Grönlands Streben nach Unabhängigkeit bringt eine Reihe paradoxer Situationen und Zielkonflikte mit sich. Die größte Insel der Welt hat hohe geopolitische Relevanz, aber eine sehr kleine Bevölkerungszahl. Nötig ist mehr Expertise für so unterschiedliche Auf­gabenfelder wie Außenpolitik und Bergbau. Erträge aus der Minenwirtschaft erhöhen die Chancen für die Unabhängigkeit, zerstören damit aber unter Umständen die empfindliche Umwelt. Inuit verlieren ihre traditionellen Lebensräume, während andere in schmelzenden Eisbergen kostenlose Werbung für Kapitalanlagen und Tourismus sehen. [...]

Es ist eine schicksalhafte Dreiecks­beziehung zwischen Kalaallit Nunaat, dem Königreich und den Vereinigten Staaten. Der Trilateralismus, geboren aus geo­grafischer Lage und politischer Notwendigkeit, dürfte noch lange fortbestehen.

Grönland ist in der komfortablen Situation, von vielen Akteuren umworben zu werden, so dass es all­mählich und pragmatisch Abhängigkeiten verringern und seine Wirtschaft diversifizieren kann, statt vor­schnell die Unabhängigkeit anzustreben und unter Umständen unvorteilhaftere neue Abhängigkeiten einzugehen. Nuuk bestimmt den weiteren Verlauf des Unabhängigkeitsprozesses, während Kopenhagen es ermöglicht, Stück für Stück die politischen und sozioökonomischen Grundlagen für eine erfolgreiche – wenn auch wahrscheinlich nicht perfekte227 – Unabhängigkeit in Zukunft zu schaffen. Eine kluge dänische Politik wird sich darum bemühen, dass Nuuk weniger abhängig wird, aber im Königreich bleiben kann. Noch ist die »Zwangsehe«228 für beide Seiten nützlich. Dänemark verdankt Grönland seinen Status als arktischer Küstenstaat und finanziert dafür Gemeinschaftsaufgaben. Die grönländische wirtschaftliche Unabhängigkeit vom König­reich bleibt ein Zukunftsthema und damit auch der Wunsch nach einem souveränen Kalaallit Nunaat."