Dienstag, 8. Januar 2019

euro|topics: Was treibt die Gelbwesten zu Gewalt?

Frankreichs Regierung will die Demonstrationsgesetze verschärfen, um härter gegen Gewalt bei Demonstrationen vorzugehen. Die neue Gesetzgebung könnte sich am Umgang mit Fußball-Hooligans orientieren. Am Samstag war es erneut zu Gewaltausbrüchen während der Gelbwesten-Proteste gekommen. Kommentatoren glauben nicht, dass es damit bald vorbei ist.

Spiegel: Gelbwesten in Frankreich  6.1.19
"[...] Nicht selten erscheint dabei das Macron-Lager gespalten: Auf der einen Seite jene, die wie der Präsident selbst in den Gelbwesten eine "hasserfüllte Menge" erkennt oder sie wie Griveaux als "Agitatoren" denunziert. Auf der anderen Seite die Versteher wie Mounir Mahjoubi, Staatssekretär für Digitalisierung, der auszieht, ganze Tage bei den Gelbwesten in der Provinz verbringt und überzeugt ist, mit dieser Bewegung "einen neuen historischen Moment zu erleben".
Zu den Verstehern zählt auch der Finanz- und Wirtschaftsminister: "Das französische Modell ist gescheitert", sagte Bruno Le Maire am Sonntagmorgen. "Wir haben in der Vergangenheit immer erst die staatlichen Ausgaben und dann die Steuern erhöht. Dagegen erhebt sich heute überall in Frankreich ein neuer Ruf nach Gerechtigkeit. Wir müssen ihn erhören." " 
LA REPUBBLICA (IT)

Der unwiderstehliche Drang zur Revolution

Was die Proteste weiter anfeuert, analysiert der Soziologe Marc Lazar in La Repubblica:
„Die Gelbwesten drücken einen sozialen Zorn aus, der sich seit Beginn der Präsidentschaft von Macron verschärft hat. ... Sie verleihen der immensen Angst wichtiger Teile der Gesellschaft Ausdruck - öffentliche und private Angestellte, Handwerker, Kleinunternehmer, Rentner, alleinerziehende Mütter, Frauen in prekären Situationen - verarmt, marginalisiert durch die Veränderungen, die sowohl ihre Arbeit als auch ihr Umfeld betreffen. Sie fühlen sich verlassen, verachtet und ohne Zukunftsaussichten. Hinzu kommt ein altes Grundelement der französischen Kultur: die Leidenschaft für Gleichheit, die Verachtung der Reichen, die Akzeptanz der Gewaltanwendung und die Idealisierung der Französischen Revolution. ... Sie vergleichen Emmanuel Macron mit Ludwig XVI. und seine Frau mit Marie-Antoinette.“
Marc Lazar
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LE FIGARO (FR)

Sie wollen den Bruch mit dem Altbekannten

Auch der Kommunikationswissenschaftler Arnaud Benedetti erkennt in dem Protest eine fast schon revolutionäre Situation, wie er in Le Figaro schreibt:
„Bei den Gelbwesten geht es um diesen Moment des Bruchs, des Umschwungs, um dieses gewisse Etwas, das eine radikal neue Situation herbeiführt. Akteure und Kommentatoren schaffen es nicht, diesen Moment zu erfassen und zu verstehen, vor allem deshalb, weil er außerhalb unserer Bezugssysteme liegt. Das ist das, was eine Revolution ausmacht. Sie reißt nieder, sie bringt uns aus dem Konzept und erstaunt uns. Der Prozess, den wir seit ein paar Wochen erleben, ist von dieser Art: er ist quasi-revolutionär.“
Arnaud Benedetti
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ADEVĂRUL (RO)

Überforderte Regierungen können gefährlich werden

Der Kolumnist Cristian Unteanu befürchtet Proteste auch in anderen europäischen Staaten. Was ihn allerdings mehr beunruhigt, sind die Reaktionen der Regierungen darauf, wie er auf seinem Blog bei Adevărul schreibt:
„Die Ereignisse bedeuten nicht, dass Europa in Gewalt versinkt, sondern dass es lediglich Anzeichen dafür gibt, dass die aktuellen demokratischen Regierungen überholt scheinen, da ihr Regelwerk offenbar nicht mehr der heutigen Realität entspricht. ... Das spüren die Politiker, ihnen fällt aber nichts anderes ein, als sich in die Diktatur zu flüchten. In eine militärische oder eine populistische, die Mischung daraus brachte die Tragödien der beiden Weltkriege hervor. ... Die Bedrohung kommt diesmal aus dem Inneren und der demokratische Anstrich einiger unfähiger und von der Situation überforderter Regierungen scheint zu bröckeln.“
Cristian Unteanu
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