Montag, 9. Januar 2023

Brasilien: Was bedeutet der Sturm aufs Parlament?

Anhänger des rechtsradikalen brasilianischen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro haben am Sonntag das Parlament und weitere Gebäude im Regierungsviertel gestürmt. Sie forderten eine Militärintervention gegen den neuen sozialistischen Präsidenten Lula da Silva. Bolsonaro distanzierte sich. Gerade wegen der Parallelen zur Erstürmung des US-Kapitols vor zwei Jahren ist Europas Presse besorgt

Noch gravierender als in Washington

Für Helsingin Sanomat kam der Angriff nicht überraschend:

„Es wäre schön, wenn man von dem Chaos am Sonntag hätte überraschter sein können, aber es lief wie nach Drehbuch. Bolsonaro hat schon lange vor der Wahl Misstrauen in den Köpfen seiner Anhänger gesät. … Was Bolsonaros Anhänger taten, ist in seinem Ausmaß viel schwerwiegender als das Eindringen der Trump-Anhänger in das Kongressgebäude im Januar 2021. Was sich am Sonntag in Brasília abspielte, wäre vergleichbar, wenn die Trump-Anhänger nicht nur den Kongress, sondern auch das Weiße Haus und den Obersten Gerichtshof der USA angegriffen und sich Zugang verschafft hätten. Offensichtlich ist auch der Umfang der Sachbeschädigung in Brasilien viel größer.“

Auch von Trump-Anhängern angepeitscht

Die Proteste wurden unter anderem vom früheren Chef-Strategen im Weißen Haus, Steve Bannon, angeheizt, analysiert BBC:

„In mehreren Folgen seines Podcasts und in Social-Media-Beiträgen schürten er und seine Gäste Vorwürfe einer vermeintlich 'gestohlenen Wahl' und von finsteren Machenschaften. Er verbreitete den Hashtag BrazilianSpring und ermutigte die Opposition noch, als Bolsonaro selbst schon das Ergebnis zu akzeptieren schien. ... Und wie bei dem, was in Washington am 6. Januar 2021 geschah, waren es falsche Berichte und Gerüchte, die dazu beitrugen, einen Mob anzuheizen, der Fenster einschlug und Regierungsgebäude stürmte, um seine eigene Sache voranzubringen.“

Populistischer Aufruhr wird exportiert

Hier zeichnet sich eine Tendenz ab, auf die sich Europa ebenfalls gefasst machen sollte, warnt La Stampa:

„Der aufrührerische Populismus breitet sich aus, er ist eine Art Vierte Internationale. Er nährt sich von der Unzufriedenheit des Volkes und lässt sich von charismatischen Führern inspirieren, die mit der Autokratie liebäugeln - Donald Trump, Jair Bolsonaro sind die klassischen Beispiele. ... Er kann leicht exportiert und instrumentalisiert werden. ... In Europa und im Westen sind Angriffe auf die Demokratie und ihre Institutionen, die darauf abzielen, Wahlergebnisse zu kippen, zu einem Risiko geworden, mit dem man rechnen muss.“

Passive Unterstützung von anderen Akteuren

Die zweifelhafte Rolle der Polizei beunruhigt The Economist:

„Während die Unruhen in Washington Lücken beim Geheimdienst und bei der polizeilichen Abstimmung enthüllten, verweist das brasilianische Pendant auf etwas viel Düsteres. Auch wenn es keine Beweise dafür gibt, dass die Polizei aktiv am Aufstand beteiligt war, blieb sie zumindest sehr passiv. Kurz nachdem die Stürmung des Kongresses von Brasília begonnen hatte, wurde eine Gruppe Polizisten dabei gefilmt, wie sie sich mit Protestierenden unterhielt, Selfies machte und das Chaos filmte, statt zu handeln und es zu stoppen. Anforderungen nach Verstärkung durch den Leiter der Senatspolizei wurden vom Gouverneur des Bundesstaats Brasília, einem Verbündeten von Bolsonaro, bis in den späten Nachmittag ignoriert.“

Demokratie braucht faire Verlierer

Corriere della Sera warnt vor Dämonisierungen:

„Das kriminelle Verhalten zielt darauf ab, eine Grundlage der Demokratie zu zerstören, nämlich die Anerkennung der Legitimität des Gegners. Die liberale Demokratie funktioniert so lange, wie die Besiegten bereit sind zurückzutreten, weil sie wissen, dass sie dank des freien Wahlwettbewerbs beim nächsten Mal wieder siegen könnten. Wird hingegen die gegnerische Partei als das absolut Böse angesehen, dann heiligt der Zweck die Mittel und sogar Gewalt wird akzeptabel. Es ist nicht nur ein Laster der Rechten, den Gegner zu dämonisieren - in dieser historischen Phase von Trump bis Bolsonaro sind es jedoch ihre politischen Parteien, die die krassesten Angriffe auf Institutionen dulden.“

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