Jürgen Habermas: Die neue, erst noch entstehende Öffentlichkeit
Von Arno Widmann FR 15.09.2022 über
Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit
und die deliberative Politik. Suhrkamp, Berlin 2022. 108 S., 18 Euro.[...] Es ist die überarbeitete Fassung eines großen Artikels in einem Sonderheft der Zeitschrift „Leviathan“ zum Thema „Ein erneuter Strukturwandel der Öffentlichkeit?“. [...]
Es [das Buch] beschränkt sich auf die Rolle, die der neue Strukturwandel der Öffentlichkeit für die „deliberative Politik“ spielt. Deliberative Politik? „Deliberatio“ heißt Beratschlagung auf Latein. [...] Gemeint ist eine Politik, bei der aus verschiedenen Ansichten, Meinungen in einer öffentlichen Auseinandersetzung ein gemeinsamer Weg gefunden wird. Demokratische Gesellschaften sind darauf angewiesen, dass das nicht nur die Politiker:innen tun. Die Staatsbürger und Staatsbürgerinnen selbst müssen einander so begegnen. Sie müssen einander anerkennen, und sie müssen sich kundig machen, um vernünftige Entscheidungen oder doch wenigstens vernünftige Begründungen für sie entwickeln zu können.
Das Internet hat die größte Öffentlichkeit hergestellt, die es jemals gab. Niemals war es leichter, sich über unterschiedlichste Vorgänge und deren Interpretationen zu informieren. Niemals konnte man mit mehr Menschen kommunizieren. Aber gerade das lässt das Verlangen nach Zugehörigkeit wachsen. Man sucht sich Freunde, bleibt mit denen in einer Blase hängen und verzichtet auf die Kommunikation mit den Vertreter:innen anderer Ansichten. Je stärker diese Tendenz wird, desto schwieriger wird es mit der Demokratie.
An anderer Stelle hat Widmann den Gedankengang von Habermas noch plastischer formuliert:
"Die digitale Revolution hat uns alle zu potentiellen Autoren gemacht, schreibt Habermas. Die sozialen Medien lassen unserer „Plapperlust“ freien Lauf. Sie sind die allen ungefiltert zugängige Öffentlichkeit. Durch sie erst sind die Medien wirklich nichts als Medien. Die Kontrollinstanzen von z. B. Redakteur und Lektor entfallen. Jeder kann jedem twittern. Auch die Politiker sind nicht mehr angewiesen auf „Bild und Glotze“. Sie erreichen ihre Follower direkt. Habermas begrüßt ausdrücklich die so stattfindende „Inklusion“. Es handelt sich zweifelsohne um einen demokratischen Schub. Aber er gefährdet, so dialektisch geht es zu, die Demokratie. Nein, das Wort dialektisch verwendet Habermas nicht. Aber er beschreibt diesen zwiespältigen Vorgang sehr genau. Habermas sieht die Gefahr, dass „sich die Meinungsbildung in den zersplitterten und gleichzeitig von selektiven Standards entlasteten Kommunikationsblasen gegen die rationalisierende Kraft einer diskursiven Vielfalt der Beiträge immunisiert.“
Sieh auch: Sind die digitalen Medien eine Gefahr für die Gesellschaft? In seinem neuen Buch schaut Jürgen Habermas besorgt auf einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit. Eine Rezension von Peter Neumann, ZEIT 22.9.22
"[...] Nicht die [...] immer befürchtete Herrschaft des Allgemeinen, des Austauschbaren, das alles Einzelne unterschiedslos unter sich zu begraben droht, lauert heute noch am Horizont der Gesellschaftstheorie. Im Gegenteil: Inzwischen ist es die Herrschaft des Besonderen und Singulären, die die Aufklärung in ein falsches Freiheitsversprechen zurückfallen lässt. Je fein ziselierter und individueller sich eine Gesellschaft gibt, desto schwerer wird es, über dem mehr oder minder berechtigten Selbstinteresse das Gemeinwohl nicht aus den Augen zu verlieren. An dieser Volte im Spätwerk des 93-Jährigen dürften künftige Nachfolger der Kritischen Theorie noch lange zu knabbern haben. [...]"
Dasselbe Phänomen des Auseinanderfalles von (in den Qualitätsmedien) veröffentlichter Meinung und der ungefilterten Meinung der vielen anderen beschreiben:
Der erste Satz laut FR (26.9.22, S.20/21): "Deutschland, eines der freiesten Länder der Welt, hat ein Problem mit der gefühlten Meinungsfreiheit."
Weiter in der FR: "Dass die beiden ernstzunehmenden und um Empirie bemühten Intellektuellen dieser Aussage die Zahlen einer Umfrage folgen lassen, ehrt sie. Nur, sie müssten wissen, dass ihre These, die sie öffentlichkeitswirksam vertreten, zu solchen Umfrageergebnissen beitragen kann, die dann diese These wiederum belegen sollen."
Dass die Autoren auf diese Umfrage hinweisen, nimmt der FR-Autor Benninghoff ihnen freilich übel und schreibt deshalb weiter: "Ein Zirkelschluss, der das ganze Elend populistischer Meinungsdebatten auf den Punkt bringt."
Dass einem Autor der Qualitätsmedien die Kritik der Autoren nicht gefällt und er sie seinerseits kritisiert, kann man ihm nicht übelnehmen. Nur dass der Hinweis auf einen Sachverhalt ein unzulässiger Zirkelschluss sein sollte, will mir nicht recht einleuchten.
Zumal deshalb nicht, weil sie dazu beitragen wollen, den Sachverhalt zu beseitigen, nämlich, dass Meinungsfreiheit als bedroht gefühlt wird.
Interview mit den Autoren: ZEIT
Ich habe meinerseits festgestellt, dass ich die Artikel der Wochenzeitung "Der Freitag" erfrischend finde, auch wenn sie m.E. des öfteren daneben liegen, einfach deshalb, weil da abweichende Meinungen intelligent vertreten werden.
Allerdings kommt etwas Entscheidendes hinzu: Es wird immer wieder auf Sachverhalte hingewiesen, die mir in anderen Qualitätsmedien entgangen sind. Das passiert mir so oft sonst nur in ausländischen Presseerzeugnissen.
"[...] Der gesamte Mechanismus der Weltaneignung und Wirklichkeitskonstruktion, den Disintermediation ermöglicht, ist also zwiespältig: Er kann uns befreien, weil auf einmal für jeden sichtbar die Diktatur der Mono-Perspektive zerbröselt. Und er kann uns in eine neue Verbiesterung und ideologische Verhärtung hineinlocken, weil sich nun der Einzelne – ohne offizielles Korrektiv, ohne die Irritation durch einen allgemein anerkannten Glaubwürdigkeitsfilter – seine Weltsicht zusammenbasteln und in seine höchstpersönliche Wirklichkeitsblase hineingoogeln kann.
[...] Worauf es insgesamt ankommt, ebendies meint Disintermediation bei gleichzeitiger Hyperintermediation*: Es entstehen, parallel zur publizistischen Selbstermächtigung des Einzelnen, Nachrichten- und Weltbildmaschinen eigener Art, globale Monopole der Wirklichkeitskonstruktion, die längst mächtiger sind als die klassischen Nachrichtenmacher. [...] Diese Gesellschaft braucht also, will sie nicht ihre liberal-aufklärerische Tradition verlassen, Denkräume und Wertedebatten, um die Frage nach der publizistischen Verantwortung in der öffentlichen Sphäre neu zu stellen, sie überhaupt erst zu behandeln. [...] Die neuen Player in der Erregungsarena der Gegenwart sind längst mitten unter uns, und es wäre fatal, die Frage nach der publizistischen Verantwortung aller weiterhin zu ignorieren. [...]" (Pöbeleien im Netz ersticken Debatten. Wir brauchen endlich Regeln! Ein Appell von Bernhard Pörksen, Die ZEIT 25.6.2015
*It's the proliferation—not elimination—of intermediaries that has made blogging so widespread. The right term here is “hyperintermediation,” not “disintermediation.”(Intermediaries online are more powerful, and more subtle, than ever before.)
Meinen (Fontanefans) Kommentar zu Pörskens Artikel habe ich damals so formuliert:
"Dass man sich "in seine höchstpersönliche Wirklichkeitsblase hineingoogeln kann" sehe ich als gesellschaftliche Gefahr, wenn es keine Konkurrenz von anspruchsvollen Redaktionen mehr gibt. (Deshalb sehe ich auch im Monopol der Wikipedia eine Gefahr, ohne das hier weiter zu begründen.)
Freilich, da ich in der Ukrainekrise [das bezog sich auf die von 2014] wie der griechischen Finanzkrise weitgehend eine unkritische Übernahme der EU-Perspektive durch die Medien beobachtet habe, befürchte ich, dass auch die traditionellen Medien - aufgrund welcher Mechanismen auch immer - keine zureichende Meinungsvielfalt mehr generieren können."