Sonntag, 29. November 2020

Ulrich de Maizière: Der Aufbau der Bundeswehr

 "Es war eine glückliche Entscheidung Adenauers gewesen, Heusinger und Speidel schon früh zur Mitarbeit zu berufen und Ihnen die militärische Verantwortung für die Vorbereitung und Durchführung des Aufbaus der Bundeswehr anzuvertrauen. In Alter und Rang fast gleich, geprägt durch vergleichbare Ausbildung als Generalstabsoffiziere und kameradschaftlichen verbunden, wurden sie von uns Jüngeren mit respektvollem Unterton gerne die 'Zwillinge' genannt, auch wenn es sich offensichtlich um zweieiige Zwillinge handelte." (Seite 197/198)

Weil ein Mangel an Offizieren bestand "entschlossen sich Bundesregierung und Parlament, den Angehörigen des Bundesgrenzschutzes (BGS) den freiwilligen Übertritt in die Bundeswehr zu ermöglichen, ein Angebot, von dem am 1. Juli 1956 etwa 10.000 Beamte aller Ränge Gebrauch machten." (Seite 208)
"Der BGS hatte bisher abseits der öffentlichen Beobachtung und Aufmerksamkeit gestanden und dabei mit großer Prägekraft einen Stil entwickelt, von dem wir fürchteten, er könne die Durchsetzung der Grundsätze der Inneren Führung erschweren. Rückschauend muss ich zugeben, daß unsere Besorgnis übertrieben war und sich nicht bestätigt hat." (Seite 209)

"Die fast sieben Bonner Jahre von Januar 1951 bis Ende 1957 bedeuteten die längste in sich geschlossene Zeit meiner bisherigen beruflichen Arbeit, die ich in der Rückschau auch als die interessanteste und fruchtbarsten Periode meines Lebens ansehe. Sie stellte meine Kameraden und mich vor eine Aufgabe, wie sie Soldaten nur selten geboten wird, die faszinierende Chance, verhältnismäßig jung an Rang und Jahren, gleichwohl geprägt durch bittere Erfahrungen, unter veränderten politischen Bedingungen praktisch aus dem Nichts heraus an der Gestaltung und dem Aufbau einer neuen Militärorganisationen mitzuwirken und dabei Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen, die das Gesicht der Streitkräfte einer jungen Demokratie für die nächsten Jahrzehnte bestimmen sollten.

Wir haben in diesen Jahren, In denen die Bundesministerien, noch im Aufbau und personell klein, frei von Routine und einengenden Regelungen flexibel und reaktionsschnell arbeiten durften, mehr 'in Gang setzen' können, als mir das nur ein Jahrzehnt später als Inspektor und Generalinspektor noch möglich war." (S.210)


Truppenführer in Hannover
"In Bonn hatte ich mich aus sicherheitspolitischen Gründen für ein rasches Aufstellungstempo eingesetzt. Jetzt sah ich mich mit den nachteiligen Konsequenzen dieser Entscheidung in der Praxis gegenüber. [...] Das Dilemma zwischen dem raschen Aufstellungstempo und dem Zeitbedarf für eine solche Ausbildung ließ sich nur überbrücken, wenn die Kommandeure Schwerpunkte setzten und vorerst Lücken bewußt in Kauf. [...] Von einem homogenen Offizierskorps konnte nicht die Rede sein. Kriegserfahrene Offiziere, jedoch meist ohne solide Friedensausbildung, standen neben den Offizieren aus dem Bundesgrenzschutz und den noch wenigen aus der jungen Bundeswehr stammenden Leutnanten mit sehr kurzer Ausbildungszeit." (S. 214)


Schule der Bundeswehr für Innere Führung
Mit der Schule der Bundeswehr für Innere Führung, deren Leitung mir General Heusinger [...] über trug, hatte die Bundeswehr eine Einrichtung geschaffen, die weder im deutschen Militär noch in ausländischen Streitkräften ein Vorbild besaß. Idee und erste Planung hierzu gingen von Baudissin und seinen Mitarbeitern aus. (S. 225)
Als Definition für Innere Führung war folgende Formulierung gefunden worden:
"Die Innere Führung ist die Aufgabe aller militärischen Vorgesetzten, Staatsbürger zu Soldaten zu erziehen, die bereit und willens sind, Freiheit und Recht des deutschen Volkes und seiner Verbündeten im Kampf mit der Waffe oder in der geistigen Auseinandersetzung zu verteidigen.

Hierbei geht sie von den politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten aus, bekennt sich zu den Grundwerten unserer demokratischen Ordnung, übernimmt bewährte soldatische Tugenden und Erfahrungen in unsere heutige Lebensform und berücksichtigt die Folgen der Anwendung und Wirkung moderner technischer Mittel." (Seite 228)
Schon General Weber hatte es durchgesetzt, daß die Schule davon entbunden wurde, Beurteilungsnotizen über die Lehrgangsteilnehmer zu fertigen. [Daher konnten sich die Soldaten frei äußern, ohne Nachteile befürchten zu müssen....] So erhielt die Schule einen ungeschminkten Einblick in das Leben der Truppe und konnte – wie ein 'Frühwarnsystem' – Fehlentwicklungen und unterschiedliche Handhabung in den Verbänden rechtzeitig erkennen." (Seite 231)


Führungsakademie der Bundeswehr
"Bei der Kommandoübernahme am 1. April 1962 fand ich eine Institution vor, die in kurzer Zeit eine feste, wenn auch nicht endgültige Gestalt erhalten und in der Truppe wie in der Stadt Hamburg eine anerkannte Stellung als die höchste Ausbildungsstätte der jungen Bundeswehr erworben hatte. "(Seite 241)
Wichtige Vorgänge in dieser Zeit : die Diskussion über die Notstandsgesetze "Die später in den Artikeln 115a bis 115l GG gefundenen Lösungen sind das Ergebnis mühsam ausgehandelten Kompromisse. Ich habe allerdings Zweifel, ob sie denn im Voraus kaum Einzuschätzenden schweren Belastungen eines Verteidigungsfalles wirklich gerecht zu werden vermögen." (S. 245)

Spiegel Affäre
"Verteidigungsminister Strauß rechtfertigte in einer geschickt angelegten Rede sein Verhalten in der die Öffentlichkeit erregenden 'Spiegel -Affäre'. Trotz seiner bemerkenswerten Leistung als dynamischer Verteidigungsminister während der Aufstellungszeit mußte er wenige Wochen später sein Amt verlassen." (S. 249)


Kubakrise im Oktober 1962

Inspekteur des Heeres
Die derzeit wichtigste Aufgabe für Führung und Truppe bestand in der Verbesserung der Personallage. Die Bundeswehr litt unter Mangel an Offizieren und unter Offizieren. (S. 260)
"[...] Dennoch konnte er die Sorgen um einen ausreichenden Offiziernachwuchs kaum mildern. Im Zuge der allgemeinen Bildungsreform der siebziger Jahre wurde diese Konzeption durch die Gründung der Bundeswehrhochschulen gänzlich verändert. (S. 261)


Generalinspekteur der Bundeswehr

Die letzten Wochen der Regierung Erhard
"[...] Die Vorgänge um den Rücktritt dreier hohe Generale – nach meinem Vorgänger, General Trettner und dem Inspekteur der Luftwaffe, Generalleutenant Panitzki, hat er auch der Befehlshaber im Wertbereich III, Generalmajor Günter Pape, um seine Entlassung gebeten – wurden im Parlament und Öffentlichkeit aufmerksam beobachtet und als Prüfstein für die Anerkennung des Primats der Politik durch die hohen Offiziere der Bundeswehr angesehen. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, ein General könne seinem Minister in einer schwierigen Situation seinen politischen Willen aufzwingen, gar einen Minister stürzen, sagte mir unter vier Augen ein befreundeter besorgter Bundestagsabgeordneten.

Daran hatte ich auch beileibe nicht gedacht. Gewiß besaß der neue Generalinspekteur zunächst eine starke Position – der Minister konnte ihn ja nicht sofort wieder fallen lassen. Ich konnte daher einiges durchsetzen, was bisher kaum erreichbar erschien. Andererseits hielt ich mich mit meinen Forderungen bewußt im Rahmen von Wortlaut und Geist des Grundgesetzes. Eine Verfassungsänderung zugunsten der militärischen Führung stand außerhalb meiner Überlegungen; das ließ ich auch die hohen Offiziere der Bundeswehr wissen. Diese Haltung erleichterte die Entscheidungen des Ministers, auch wenn er sie gegen den Rat seines Staatssekretärs traf. (S. 282)
"Es war der Öffentlichkeit kaum bewusst, wie eng sich das Beziehungsgeflecht zwischen den Generalstabschefs der NATO-Mitgliedstaaten inzwischen entwickelt hatte. Sie trafen sich regelmäßig während der Sitzungen des Militärausschusses, zu den Beratungen der Verteidigungsminister im DPC (Defence Planning Committee) und der NPG." (S. 301)

Unter dem ersten sozialdemokratischen Verteidigungsminister

"Ich erinnerte mich an ein Gespräch, das Fritz Erler – damals Führer der Opposition – etwa ein Jahr vor seinem Tode (22. Februar 1967) mit mir geführt hatte. Ihre eigentliche Bewährungsprobe auf Verfassungstreue und demokratische Zuverlässigkeit, so meinte er damals, werde die Bundeswehr erst dann abzulegen haben, wenn einmal einem Sozialdemokraten als Verteidigungsminister die Befehls- und Kommandogewalt übertragen würde. Dies sollte nun Wirklichkeit werden, fast 50 Jahre, nachdem der Sozialdemokrat Gustav Noske als Reichswehrminister für kurze Zeit ein vergleichbares Amt innegehabt hatte." (S.312)
Helmut Schmidt fragte wie denke der Generalinspekteur, wie die Mehrheit der Offiziere darüber, und was erwarte man von ihm? In meiner Antwort wies ich zunächst darauf hin, dass der Verteidigungsminister – möglichst von der gleichen Partei wie der Kanzler – eine politisch erfahrene und profilierte Persönlichkeit sein müsse, mit Gewicht im Kabinett und Parlament, mit internationaler Erfahrung und nicht zuletzt mit Autorität gegenüber den Streitkräften. In der SPD sähe ich keinen Politiker, der bessere Voraussetzungen für dieses Amt mitbringe als ihn. Die Zuschriften aus der Bundeswehr kämen wohl überwiegend von jüngeren Offizieren – Schmidt nickte –, während ich die Stimmung der älteren Offiziere am besten mit dem Worten beschreiben könne: 'Wenn schon SPD, dann Helmut Schmidt.' (S. 312)
"Schmidt erwarb sich durch seine mit politischer Erfahrung geplante Sachkenntnis bald Respekt und Ansehen bei seinen Kollegen. Die von ihm bevorzugte ungeschminkte Sprache – ähnlich der des langjährigen britischen Verteidigungsministers Denis Healey – entsprach nicht immer diplomatischen Brauch, ließ aber dafür seine Auffassungen klar erkennen. Die Amerikaner, insbesondere ihr Verteidigungsminister Melvin Laird, schätzten diesen Umgangston." (S.323)

"Nach den Ansprachen des stellvertretenden Generalinspektors und des Ministers erhielt ich das Wort zu einer letzten Rede als aktiver Soldat. Es spiegelt mein Empfinden für den Sinn meines Dienstes seit 1951 wieder, wenn ich dabei sagte:
Wir Soldaten träumen nicht von Frieden. Wir planen ihn – oder lassen Sie mich lieber sagen – wir helfen, ihn zu planen. Wir planen, den Frieden zu erhalten, zu sichern und – falls eher verloren gehen sollte – so rasch wie möglich wieder herzustellen. Wir meinen dabei einen Frieden in Freiheit. Das ist zugleich die Aufgabe der Bundeswehr. Der Soldat bezieht seinen Selbstverständnis aus dieser Aufgabe, er ist daher mit der Politik aufs engste verbunden." (S.333)

Willy Brandt sagte dazu: "Das, was Sie da vorhin in Ihrer Rede gesagt haben, Herr General, ist im besten Sinne des Wortes preußisch." (S. 333)

(Ulrich de Maizière: In der Pflicht (Autobiographie) 1989)

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