Donnerstag, 5. November 2020

euro|topics: US-Wahl: Schlammschlacht noch vor dem Endergebnis

 

Joe Biden geht als Favorit auf die Zielgerade der Stimmauszählung in den USA. Bislang erhielt er knapp drei Millionen Stimmen mehr als Trump – doch genug Wahlleute kann er noch nicht auf sich vereinen. Donald Trump, der sich in der Wahlnacht vorzeitig zum Sieger erklärt hatte, zog unterdessen in mehreren Bundesstaaten gegen die Stimmauszählung vor Gericht. Für Beobachter ein Schlag in die Magengrube der US-Demokratie.

NOVI LIST (HR)

Der Fall der USA als Live-Ereignis

Dass Trump sich vorab zum Sieger erklärt, ist ein Sargnagel für die US-Demokratie, entsetzt sich Novi list:

„Praktisch in Echtzeit können wir den Fall der großen amerikanischen Demokratie beobachten. Wer auch immer am Ende gewinnt, Trump oder Biden: In der Geschichte wird geschrieben stehen, dass Trump seinen Sieg verkündet hat, als erst etwas mehr als zwei Drittel der Stimmen ausgezählt waren. Und dass er gleichzeitig schon verlauten ließ, dass er Betrug und Schwindel sieht und den Sieg vor dem Obersten Gerichtshof ausfechten wird. Mit solch einer Äußerung hat der Präsident der USA sein Land nicht wieder groß gemacht, sondern die erste und größte Demokratie der Welt zugrunde gerichtet. Alles wofür Amerika steht - Freiheit, Demokratie, Stärke der Institutionen und Prozesse - hat er zerstört, weil er mit seiner Nachricht suggeriert, dass die Wahlen nur gelten, wenn er gewinnt.“

Tihana Tomičić
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CORRIERE DEL TICINO (CH)

Weltmacht am Abgrund

Auch für Fabio Pontiggia, Chefredakteur von Corriere del Ticino, stehen diese Wahlen ungeachtet ihres Ausgangs im Zeichen des Niedergangs der USA:

„Für all diejenigen, die trotz aller Kritik und trotz aller Mängel an die Tugenden der liberalen Demokratie glauben, sind die Nicht-Vorzeigbarkeit Trumps und die Substanzlosigkeit Bidens der Gradmesser für den politischen Niedergang eines großen Landes und einer großen Demokratie. ... Das System der Kandidatenauswahl ist nicht mehr in der Lage, Persönlichkeiten mit Substanz hervorzubringen, zwischen denen das Volk wählen könnte. Von Wahltermin zu Wahltermin müssen wir mit ansehen, wie die USA immer weniger als politisch-institutioneller Bezugspunkt dienen können. Der Wahlkampf zwischen Trump und Biden markiert den Tiefpunkt dieses Niedergangs.“

Fabio Pontiggia
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DE VOLKSKRANT (NL)

Wo bleibt der Aufschrei?

Angesichts von Trumps Aussagen noch während der Stimmauszählung hätte sich De Volkskrant vom Rest der Welt mehr Entrüstung gewünscht:

„Es ist bemerkenswert, dass Trumps beispiellose Brüskierung der amerikanischen Wähler und des Wahlsystems kaum internationale Empörung auslöste. Zwar verliehen die Demokratische Partei und die amerikanischen 'mainstream media' (wie das von Trump verhasste CNN) ihrer Wut Ausdruck, und sogar Fox News reagierte empört. Aber während die Welt sonst so laut Schande ruft, wenn sich manche afrikanischen Präsidenten mit Einschüchterungen und haarsträubenden Vorwürfen von Wahlbetrug an die Macht klammern, blieb es jetzt bezeichnenderweise still.“

Carlijne Vos
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EL PAÍS (ES)

Das System braucht ein Update

Die US-Demokratie muss erneuert werden, doch dafür gibt es leider keinen Konsens, bedauert Alexander Stille, Dozent für politischen Journalismus an der New Yorker Columbia University, in El País:

„Auch wenn das Endergebnis der jüngsten Präsidentschaftswahlen noch nicht klar ist, steht ein Verlierer bereits eindeutig fest: das US-amerikanische Wahlsystem. ... Die Verfassung der USA, die älteste von allen Demokratien der Welt, benötigt dringend ein Update. Auch das Wahlsystem braucht eine Erneuerung, um Gerechtigkeit, Einheitlichkeit und Legitimität einigermaßen gewährleisten zu können. Aber in so einem gespaltenen Land wird es schwierig sein, den nötigen politischen Konsens für solch gewichtige Reformen zu schaffen.“

Alexander Stille
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US-Wahl: Schlammschlacht noch vor dem Endergebnis
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Trump und der blinde Fleck der Meinungsprofis

Dank der Briefwahlstimmen liegt am frühen Donnerstag Joe Biden nun mit 253 zu 214 Stimmen vorne. Aber auch Donald Trump hat weiterhin Siegchancen und schneidet damit wie schon 2016 deutlich besser ab, als es Meinungsumfragen und Europas Presse vorhergesagt hatten. Was ist es, das sie am Phänomen Trump nicht zu greifen bekommen?

CORRIERE DELLA SERA (IT)

Skrupellos, individualistisch, amerikanisch

Europa ignoriert das Amerika, für das die Trump-Wähler stehen, bemerkt der Historiker Ernesto Galli della Loggia in Corriere della Sera:

„Das Amerika der Prärien und Kleinstädte, verwurzelt in seinen uralten Vorurteilen, unempfindlich gegenüber allem, was außerhalb seiner bewegt und gedacht wird (angefangen bei den vielgeschmähten liberalen Medien). Überzeugt vor allem davon, dass Freiheit im Grunde nur eines bedeutet: innerhalb möglichst weniger, nur grundsätzlicher Grenzen tun zu können, was man will. ... Es ist dieses Amerika, dessen Wertvorstellungen einer Art anarchischem Individualismus gleichen, das sich in Trump wiedererkennt. ... Das ist das offenbar unauslöschliche Erbe der Geschichte eines Landes, das dank der skrupellosen Initiative Einzelner entstanden ist und das Schicksal seiner Gemeinschaft oft der Sprache der Waffen anvertraut hat.“

Ernesto Galli della Loggia
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AFTONBLADET (SE)

Hoffnung schlägt Furcht

Trumps Erfolgsrezept ist die positive Botschaft seines Wahlkampfs, schreibt Aftonbladet:

„Wahlkampf spielt sich oft in einem gefühlsmäßigen Spektrum zwischen Hoffnung und Furcht ab. Barack Obamas Parole 'Ja, wir können' oder Ronald Reagans 'Es ist Morgen in Amerika' gaben Hoffnung und Zuversicht auf geniale Art und Weise wieder. Aber das tut auch Donald Trumps 'Amerika wieder großartig machen'. Der Tod ist dagegen sehr deprimierend. An den will man am liebsten überhaupt nicht denken. Und deswegen ist die Botschaft 'Wähle mich, dann kriegst du einen Job' immer besser als 'Wähle mich, sonst wirst du arbeitslos'. Oder wie die Demokraten es mehr oder weniger gesagt haben: 'Wähle uns, sonst stirbst du'.“

Anders Lindberg

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