Mittwoch, 30. Oktober 2024

Marcus Jauer: Ostdeutschland: Der Traum von einer besseren DDR

 Marcus Jauer: Ostdeutschland: Der Traum von einer besseren DDR 

ZEIT, 29.10.24

Wer das politische Drama der Ostdeutschen verstehen will, muss auf den 4. November 1989 schauen: den Tag, an dem auf dem Alexanderplatz in Berlin "das Volk" seine Zukunft selbst in die Hand nehmen wollte.[...] 

Wären die Ostdeutschen in einem eigenen Staat womöglich glücklicher geworden?

Eine hypothetische Frage, aber betrachtet man sie vom 4. November aus, wirkt der Herbst 1989 wie ein aus freien Stücken abgebrochener Versuch der Selbstbestimmung. Die DDR-Bürger gingen in den Westen, in der Annahme, sie würden Deutsche werden, stattdessen wurden sie Ostdeutsche. Statt eines vereinten Landes entstand im Osten eine Identität, die sich in Abgrenzung zum Westen begreift und in Wirklichkeit eine Sackgasse ist. In einer Demokratie, in der die Mehrheit entscheidet, ist man, solange man sich vor allem als Ostdeutscher begreift, strukturell stets in der Minderheit.

Die verschiedenen Parteien, mit denen die Ostdeutschen die politische Landschaft der gesamten Bundesrepublik verändert haben, angefangen von der PDS über die AfD bis zum Bündnis Sahra Wagenknecht, wären so gesehen ein Versuch, die eigenen Angelegenheiten wieder in die Hand zu bekommen, ohne in einem eigenen Staat zu leben. In dieser merkwürdigen Doppelexistenz liegt die geschichtliche Tragik des Ostdeutschen – ein Zuwanderer zu sein, der auf seinem eigenen Territorium geblieben ist und doch in dem Gefühl lebt, seine Heimat verloren zu haben."

Eine bedenkenswerte Sicht auf die Geschichte Ostdeutschlands.

Gelungene Formulierungen, die freilich nur einen Teil der heutigen Wirklichkeit treffen.

"In einer Demokratie, in der die Mehrheit entscheidet, ist man, solange man sich vor allem als Ostdeutscher begreift, strukturell stets in der Minderheit." 

Als Bayer, der sich vor allem als Bayer begreift,  ist man nicht "strukturell stets in der Minderheit", sondern als Christdemokrat Teil einer relativen Mehrheit, genauso, wie man sich vor allem als Rheinländer begreift.

"ein Versuch, die eigenen Angelegenheiten wieder in die Hand zu bekommen, ohne in einem eigenen Staat zu leben" 
Den Versuch machte vor allem eine Minderheit von Bürgern der DDR, die einen dritten Weg gehen wollten. Die Mehrheit machte den Versuch nicht mit.

"Tragik des Ostdeutschen – ein Zuwanderer zu sein, der auf seinem eigenen Territorium geblieben ist und doch in dem Gefühl lebt, seine Heimat verloren zu haben".

Zuwanderer waren die vielen - vor allem jungen - Leute, die nach der Vereinigung in den Westen gingen. Die, die blieben, verloren nicht ihre Heimat, sondern ihre gesellschaftliche Sicherheit. Dafür sprechen Rolf Hochhuth: Wessis in Weimar, Günter Grass: Weites Feld. 

Was dabei übergangen wird: Es gab eine PDS mit Gregor Gysi als Vorsitzendem, die primäre eine Kümmererpartei war. 
Die AfD ist eine Sammelpartei für alle Unzufriedenen, die durch die Coronamaßnahmen und durch die unzureichend sozial abgefederten Transformationsversuche vor allem bei parteipolitisch nicht gebundenen Wählern große Anziehung erreichte. Der rechtsradikale Flügel versucht mitnichten "die eigenen [ostdeutschen] Angelegenheiten wieder in die Hand zu bekommen, sondern eine gesamtstaatliche Rechtsradikalsierung zu erreichen. 
Das BSW  versucht, die ursprüngliche soziale Orientierung der WASG aufzugreifen und durch die aktuelle Problematik der Integration Geflüchteter zu ergänzen in strikter Abgrenzung von AfD und identitären Bestrebungen innerhalb der Linken.

Donnerstag, 24. Oktober 2024

Der SPD-Generalsekretär Miersch über die Entwicklung seiner Partei

 "Mir fällt auf, dass es generell nach Corona schwieriger geworden ist, Formate zu finden, in denen vernünftig miteinander diskutiert wird. Den Diskurs, das miteinander Ringen, habe ich vor zehn Jahren noch ganz anders erlebt. Da ist etwas verloren gegangen. Da möchte ich gerne wieder hin. Natürlich müssen wir aufpassen, da Diskussionen medial gern als Streit interpretiert werden. Aber die Demokratie lebt doch von der Auseinandersetzung über den besten Weg." 

(Vorwärts 19.10.2014)

euro|topics: Georgien-Wahl: Was steht für Europa auf dem Spiel?

Georgien wählt am Samstag ein neues Parlament. Während sich die Georgier in Umfragen immer wieder deutlich für den Weg in die EU ausgesprochen haben, setzte die seit 2012 regierende Partei Georgischer Traum zuletzt Gesetze durch, die russischen Vorbildern ähneln und die Rechte der Opposition und der Zivilgesellschaft einengen. Die EU legte daraufhin den erst Ende 2023 eingeläuteten Beitrittsprozess des Landes auf Eis.

Nowaja Gaseta (RU)

In jedem Fall eine Wegscheide

Nowaja Gaseta erkennt eine Schicksalswahl:

„Georgischer Traum spricht von einer Wahl zwischen Krieg und Frieden. Die Opposition spricht von einer Wahl zwischen der 'russischen Welt' und dem europäischen Weg, den das Land in den letzten Jahrzehnten eingeschlagen hat. ... Die Partei selbst behauptet unter Berufung auf eigene Umfragen, dass etwa 60 Prozent der Wähler bereit sind, für sie zu stimmen, so dass sie eine verfassungsändernde Mehrheit in der Tasche hätte, die es ihr ermöglichen würde, die Frage der Opposition endgültig zu klären und weiterhin nach eigenem Gutdünken zu handeln. Wenn das passiert, laufen viele Georgier Gefahr, am 27. Oktober in einem anderen Land aufzuwachen.“

Viktoria Robotnowa
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La Repubblica (IT)

Regierungspartei sabotiert EU-Beitritt

La Repubblica klagt:

„Während in Moldau die Bevölkerung noch gespalten ist, unterstützen hier mehr als 80 Prozent der 3,7 Millionen Bürger den Weg der EU-Integration. ... Die Partei, die seit zwölf Jahren an der Regierung ist, Georgischer Traum, setzt jedoch alles daran, diesen Weg zu sabotieren. Ihr Gründer und De-facto-Führer Bidsina Iwanischwili, ein Milliardär, der sein Vermögen in Russland gemacht hat, kontrolliert die Justiz und die Presse und hat freiheitseinschränkende Maßnahmen durchgesetzt, wie das so genannte 'russische Gesetz', das Medien und NGOs, die ausländische Gelder erhalten, dazu verpflichtet, sich als 'ausländische Agenten' registrieren zu lassen, oder ein Anti-LGBT-Gesetz. …. Die Proteste der Bürger reichten nicht aus: Anfang Juli musste die EU den Beitrittsprozess aussetzen, der erst im vergangenen Dezember begonnen hatte.“

Rosalba Castelletti
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El Mundo (ES)

Brüssel muss demokratische Kräfte mehr unterstützen

El Mundo fordert ein stärkeres Engagement der EU gegen unlautere Methoden Russlands, an Einfluss zu gewinnen:

„Am Sonntag schlug Russland eine neue Schlacht seines hybriden Kriegs gegen Europa. ... Seine Einmischung in der Republik Moldau ist der Vorbote einer ebenso gefährlichen Einmischung in die Parlamentswahlen in Georgien am Samstag. Die Bedrohung, die Putin für beide Gebiete darstellt und die wie in der Ukraine jederzeit militärisch werden könnte, zwingt die EU, ihre Unterstützung für die demokratischen Kräfte zu verdoppeln. Sie sind ein Schutzwall gegen einen zunehmend aggressiven russischen Imperialismus.“

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Financial Times (GB)

Faire Wahlen sind unwahrscheinlich

Die EU und die USA sollten sich schon mal über Strafmaßnahmen Gedanken machen, regt Financial Times an:

„Es gibt gute Gründe, daran zu zweifeln, dass die Wahlen an diesem Wochenende frei und fair sein werden. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass Iwanischwili und seine Partei von der Macht zurücktreten würden, falls die demokratische Opposition entgegen aller Wahrscheinlichkeit gewinnen sollte. Im Falle von Unruhen nach den Wahlen sollten die EU und die USA bereit sein, als Vermittler zu fungieren. Sollte Iwanischwili unrechtmäßig an der Macht bleiben und sich weiter vom demokratischen Pfad entfernen, werden Strafmaßnahmen gegen ihn – und nicht gegen das georgische Volk – notwendig sein.“

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Öffentlichkeit und Zensur

 Der Bereich der Öffentlichkeit hat sich seit der Antike immer wieder einmal in großen Schüben ausgeweitet. Während in den antiken Stadtstaaten auf Agora und Forum jeder berechtigte Bürger sprechen durfte, aber nur gehört wurde, so weit seine Stimme reichte, entstand mit der christlichen Kirche eine tendenziell weltweite Öffentlichkeit, die freilich durch Inquisition und Ketzerverfolgung reguliert wurde. Als mit den Humanisten und dem Buchdruck auch eine weltliche Öffentlichkeit möglich wurde, war sie durch den Zugang zur Druckerpresse eingeschränkt (die Portale wie Verlage und Presse kontrollierten). Gegen "Wildwuchs" halfen sich die mächtigen Autoritäten mit Zensur. In der Zeit der bürgerlichen Revolution und der Aufklärung formulierte Kant den Gedanken, jeder Mensch sollte es wagen zu denken. So kam es zum bürgerlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas).

Seit dem Internet kann (tendenziell!)  jede(r) sich am Informationsaustausch beteiligen. Dagegen wendet sich staatliche Zensur, doch Milliardäre können Portale (wie Twitter --> X) aufkaufen und weltweite selbst kontrollierte Meinungszonen schaffen. 

Meine Frage ist: Wie kann in Zeiten der KI, wo Fälschungen von Bildern, Videos und Wortbeiträgen ohne hochkomplizierte Prozesse nicht aufgedeckt werden können, wieder eine Öffentlichkeit für einen (tendenziell) herrschaftsfreien Diskurs entstehen?

Mittwoch, 23. Oktober 2024

Ein Flüchtling aus Syrien

Ein Syrer, 20 Jahre, spricht:

Die Möglichkeit, sich sozial zu engagieren und seine eigene Stimme in der Öffentlichkeit zu zeigen, das kannte ich aus Syrien nicht. Dort gibt es keine Demokratie. Meine Eltern waren skeptisch, als ich ihnen sagte, ich würde mich für ein Schülerstipendium bewerben, bei dem es um gesellschaftliches und politisches Engagement geht: „ Omar, wir sind Flüchtlinge. Wir haben keine Rechte", sagten sie. Doch hier in Deutschland geht das. Auch für Geflüchtete.
Noch bevor ich das Stipendium der START-Stiftung erhielt, habe ich an meiner Schule Nachhilfe für Schüler mit Migrationshintergrund gegeben, da ich Arabisch und Deutsch konnte. Als Stipendiat, habe ich dann viel über gesellschaftliches und politisches Engagement gelernt und an verschiedenen sozialen Projekten teilgenommen.[...].
Mein Engagement ist für mich ein Weg, dieser Gesellschaft hier etwas zurückzugeben. Deutschland hat mir nicht nur Asyl gegeben, sondern auch die Chance, mich persönlich zu entfalten und Teil dieser großen Gemeinschaft zu werden. Das möchte ich auch anderen ermöglichen.[...] Ein Zitat finde ich unglaublich stark: "Jeder einzelne trägt die ganze Verantwortung." Genau das verbinde ich mit Engagement. Es gibt so viele Wege, sich zu beteiligen und in dieser Gesellschaft etwas zu verbessern. 

Mittwoch, 16. Oktober 2024

euro|topics: Italien lagert erste Asylverfahren nach Albanien aus



Italien hat das erste Schiff mit Migranten nach Albanien geschickt. Die Asylanträge der 16 Männer aus Ägypten und Bangladesch sollen dort in Aufnahmezentren im Schnellverfahren geprüft werden. Das sieht ein im vergangenen Jahr zwischen Rom und Tirana vereinbartes Abkommen vor. Kommentatoren beleuchten, was das für Europa bedeutet.

La Vanguardia (ES)

Abschottung hat Konjunktur

La Vanguardia erkennt eine europaweite Wende:

„Die EU-Kommission will jetzt die Abschiebevorschriften verschärfen und bewirbt das umstrittene Modell, das Italien mit Albanien vereinbart hat, als 'innovative Lösung'. ... Von der Leyen setzt sich für Abkommen mit 'sicheren Drittstaaten' ein, wie sie mit Tunesien und Ägypten bestehen, und blickt auf Libyen, Algerien und Mauretanien. Mit der Türkei hat die EU seit 2016 ein Abkommen. ... Die Verlagerung zu härteren Maßnahmen zeigt sich auch in den von immer mehr Ländern getroffenen Entscheidungen. Angefangen bei den Grenzkontrollen in Frankreich und Deutschland bis hin zur vorübergehenden Aussetzung des Asylrechts in Finnland und Polen. Die Ablehnung der Migration geht um in Europa.“

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Süddeutsche Zeitung (DE)

Beweis europäischer Hilflosigkeit

Das italienische Modell darf nicht zum Vorbild werden, warnt die Süddeutsche Zeitung:

„Wer die Bilder des Hauptlagers im Dorf Gjadër sieht, in denen jetzt Menschen auf Monate weggesperrt werden, bis über ihr Schicksal entschieden ist, dem kann es nur grausen. Europa hat sich an Flüchtlingsheime gewöhnt, in denen Menschen lange Zeit ohne sichere Perspektive hausen müssen, aber dies hier hat eine andere Dimension. Das streng abgeschirmte Lager sieht aus wie ein Hochsicherheitsgefängnis für Schwerverbrecher. Nagelneu, aber unwirtlich, kalt und herzlos. Da klingen die Worte des italienischen Innenministers wie Hohn: Es sei ja schließlich kein Stacheldraht verbaut. Albanien kann nicht die Lösung sein. Es ist der bildhafte Beweis europäischer Hilflosigkeit und Unmenschlichkeit.“

Marc Beise
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La Repubblica (IT)

Auf Kosten der Steuerzahler

La Repubblica wirft Rom Kolonialismus gegenüber Albanien vor:

„Seit den Tagen des Außenministers Galeazzo Ciano [der Regierung Mussolini] übt das Land der Adler eine unwiderstehliche Faszination auf die italienische Rechte aus, die sich nun rühmen kann, wieder einmal ein kleines Stück der anderen Seite der Adria italienisiert zu haben. Diese Rückkehr zum alten Kolonialismus geht natürlich auf Kosten der italienischen Steuerzahler. ... Die Opposition spricht von einer Milliarde, andere Recherchen von 600-650 Millionen Euro für ein Abkommen, das zehn Jahre dauern soll. Wenn [Finanz-] Minister Giorgetti bei seiner Ausgabenüberprüfung Ratschläge zur Kürzung unnötiger Ausgaben wünscht, könnte er sein Fernglas in Richtung Tirana richten.“

Francesco Bei
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El País (ES)

Gesellschaft verroht

El País ist entsetzt:

„Seit einigen Monaten kann man jeden Unsinn über Einwanderer sagen, ohne dass jemand mit der Wimper zuckt. Wir haben sogar gehört, dass die Meloni-Methode funktioniert und es wünschenswert wäre, sie in Spanien nachzumachen. Wirklich? Italien hat nichts anderes getan, als die Rettung schiffbrüchiger Einwanderer zu behindern, die eigenen Häfen zu schließen, um die Route der Überfahrten in Richtung Kanarische Inseln umzulenken, und im benachbarten Albanien Auffanglager zu errichten. ... Nachbarländer, die bei den Menschenrechten noch skrupelloser sind als wir, machen ein Geschäft damit, zu einem undankbaren und gewalttätigen Wartesaal zu werden. ... Das Ergebnis unserer Gleichgültigkeit wird eine gewalttätigere und herzlosere Gesellschaft sein.“

David Trueba
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