Sonntag, 1. Oktober 2023

Zu denkbaren Ausstiegsstrategien aus dem Ukrainekrieg

"Wie könnten die aussehen? Für die Krim und die östlichen Gebiete der Ukraine wird es in absehbarer Zeit keine Lösung geben, die sowohl von ukrainischer als auch von russischer Seite akzeptiert werden wird. Beide Seiten haben sich mit Maximalforderungen blockiert. Die Vorstellung, Russland habe sich diese Gebiete rechtswidrig angeeignet, also müsse es sich auch vollständig aus diesen Gebieten zurückziehen, bevor Verhandlungen überhaupt in Betracht kommen, mag nach Gerechtigkeit für die Ukraine klingen, ist aber naiv und unrealistisch. Das wissen auch die Entscheidungsträger in Washington und westlichen europäischen Hauptstädten. 

Es wird nichts anderes übrig bleiben, als diese territorialen Fragen, so gut es geht, für eine gewisse Zeit auszuklammern und Übergangslösungen zu finden, für die es Beispiele aus der jüngeren Geschichte gibt.

Eine ernst gemeinte Ausstiegsstrategie hat es mit zwei entscheidenden Gegebenheiten zu tun. Zum einen ist der Krieg in der Ukraine keine ausschließlich ukrainisch-russische Angelegenheit, sondern ein weiterer Stellvertreterkrieg zwischen Russland einerseits und dem politischen Westen in Gestalt der NATO beziehungsweise den USA und der EU andererseits. Der brasilianische Präsident Lula da Silva hat sich dazu folgendermaßen geäußert: „Russland trägt die alleinige Verantwortung für den Ausbruch des Krieges, aber mittlerweile sind die USA und Europa verantwortlich für die Förderung eines Stellvertreterkrieges.” Zum anderen: So lange eine der beiden Seiten davon ausgeht, den Krieg militärisch gewinnen zu können – was immer das in der konkreten Ausgestaltung bedeuten mag –, ist die Bereitschaft zu verhandeln gering. Mittlerweile hat der Krieg allerdings eine Phase erreicht, die an Stellungskriege vergangener Zeiten erinnert, verbunden mit dem zynischen Begriff „Abnutzungskrieg”.

Auf dieser Grundlage sind mindestens drei parallele Aktivitäten notwendig, um den Teufelskreis zu durchbrechen: Vermittlung von außen zwischen den beiden direkten Kontrahenten Russland und Ukraine, internationale Zusammenkünfte angelehnt an die Schlussakte von Helsinki 1975 beziehungsweise eine Aufwertung der OSZE und schließlich Abrüstungsverhandlungen, nachdem nahezu sämtliche Errungenschaften der Entspannungspolitik auf diesem Gebiet eliminiert wurden, meist auf Betreiben der USA. Das alles muss jemand initiieren, und es irritiert mich als Europäerin sehr, dass wahrnehmbare Aktivitäten in dieser Hinsicht im Wesentlichen von China, den afrikanischen Staaten und dem sogenannten globalen Süden ausgehen. Es irritiert mich umso mehr, als dieser Krieg in Europa stattfindet und in erster Linie Europa betrifft. Es müsste also im ureigenen Interesse der Europäer liegen, diesen Krieg zu beenden und endlich an einer verlässlichen Sicherheitsarchitektur zu bauen, die augenscheinlich Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wesentlich leichter hätte errichtet werden können als jetzt. Es nützt nichts, dem hinterherzutrauern. Wenn ich allerdings an die Ergebnisse der Politik von Michail Gorbatschow denke, die eine belastbare Grundlage für den Bau eines europäischen Hauses abgegeben hätten, dann habe ich das dringende Bedürfnis, mich bei ihm entschuldigen zu wollen. Es ist sehr schnell in Vergessenheit geraten, wie hoch das Risiko war, das der damalige sowjetische Staatspräsident Gorbatschow für sein Land und nicht zuletzt für seine Familie eingegangen ist, um diese Grundlage zu ermöglichen.

Es ist ja nicht so, als gäbe es keine durchdachten Vorschläge, wie man den Krieg mit einem Verhandlungsfrieden beenden kann. Ende August 2023 ist in Zeitgeschichte im Fokus, einer Schweizer Zeitschrift, ein Artikel erschienen, für den die Professoren Peter Brandt, Hajo Funke und Horst Teltschik sowie General a. D. Harald Kujat verantwortlich zeichnen. Das übergeordnete Motto liest sich so: „Legitime Selbstverteidigung und das Streben nach einem gerechten und dauerhaften Frieden sind kein Widerspruch.” Der ausführliche und mit Quellen belegte Artikel beschreibt, warum keine Seite diesen Krieg militärisch gewinnen kann. Die einzelnen Schritte der Ausstiegsstrategie werden sehr konkret in drei Phasen beschrieben: Waffenstillstand, Friedensverhandlungen, eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung.

„Der Krieg hätte verhindert werden können”, heißt es an einer Stelle, „hätte der Westen einen neutralen Status der Ukraine akzeptiert (wozu Selenskyj anfangs durchaus bereit war), auf eine NATO-Mitgliedschaft verzichtet und das Minsk-II-Abkommen für Minderheitenrechte der russischsprachigen Bevölkerung durchgesetzt. Der Krieg hätte Anfang April 2022 beendet werden können, hätte der Westen den Abschluss der Istanbul-Verhandlungen zugelassen. Es liegt nun erneut und möglicherweise letztmalig in der Verantwortung des ‚kollektiven Westens’ und insbesondere der USA, den Kurs in Richtung Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zu setzen.”

Es wird Zeit, dass auch der Letzte begreift, wie wichtig es ist, den Punkt nicht zu verpassen, an dem es kein Zurück mehr gibt, weil die Dinge eine Eigendynamik entwickeln, die sich politisch nicht mehr einfangen lassen. Angesichts der militärischen Möglichkeiten und der vollgestopften Nukleararsenale kann das nur im Desaster enden. [...]" (1. Oktober 2023  von Gabriele Krone-Schmalz    Nachdenkseiten)

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