Donnerstag, 27. Januar 2022

"Die Schoah ist nicht nur deutsche, sondern Menschheitsgeschichte"

 Die Erinnerung an den Holocaust ist keine Frage der Abstammung, der Nationalität oder der Hautfarbe.  von 

Recht hat sie und man sollte ihren Beitrag ganz lesen, um das volle Recht dieser Aussage nachvollziehen zu können.

Allerdings macht es dennoch einen Unterschied, ob man diese Aussage als Deutscher oder als Jude, als Weißer oder als Schwarzer, als Nachkomme Himmlers oder eines Holocaustopfers macht.

 beginnt ihren Beitrag: 

"Ich war sehr bewegt, als meine Mutter die Geschichte von Anne Frank erzählte. Ohne es in Worten fassen zu müssen, dachten wir beide in diesem Moment an die Verfolgung und Flucht meiner Eltern aus Pakistan. Durch die Lektüre des Tagebuchs erfuhr ich zum ersten Mal von der Schoah." (ZEIT 26.1.22)

Als Migrantin und Geflüchtete hatte sie einen anderen Zugang zum Schicksal von Anne Frank als ein Bewohner des Gaza-Streifens. Umso wichtiger, dass von jemandem, der damit nicht einer Verantwortung ausweichen will, gesagt wird:

"Die Schoah ist nicht nur" deutsche (Geschichte), "sondern Menschheitsgeschichte". Dabei sollte man nicht außer Acht lassen, dass es natürlich auch ganz unterschiedliche Aspekte deutscher Geschichte und der Menschheitsgeschichte* gibt und dass selbstverständlich alle diese Teilaspekte der Menschheitsgeschichte sind.

Übrigens, wie liest sich der Satz "Die Schoah ist nicht nur jüdische, sondern Menschheitsgeschichte"? Fügt er dem Vorhergehenden aus Ihrer Sicht einen neuen Aspekt hinzu?

*Zum einen möchte ich darauf aufmerksam machen, dass oben sehr unterschiedliche "deutsche Geschichten" und "Menschheitsgeschichten" verlinkt sind, aber außerdem auf das Buch AnfängeEine neue Geschichte der Menschheit, Stuttgart 2022 von David Graeber und David Wengrow hinweisen, die annehmen, dass es im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder und an den verschiedensten Orten Phasen erstaunlich egalitärer Machtverteilung gab, die von heutiger Staatlichkeit aus gesehen, als Anrachien gelten können. 

Rezensionen bei Perlentaucher

Rezension von Lars Weisbrod in der ZEIT 27.1.2022

Interview mit David Wengrow in SWR2 Stand 28.1.22

Wengrow weist darauf hin, dass Kondiaronk und Louis-Armand de Lom d’Arceauch genannt Baron de Lahontan, einen ganz wesentlichen Einfluss auf die Aufklärung hatten, der in der europäischen Geschichtsschreibung zu Unrecht weitgehend ausgeblendet oder schlicht vergessen worden ist. Ausführlich äußert er sich zum Begriff Schismogenese.

Es ist wenig originell, wenn ich jetzt behaupte, dass der Holocaust ohne zentral organisierte Staatlichkeit nicht möglich gewesen wäre. Oft wird staatlich organisierter industrieller Völkermord als das Alleinstellungsmerkmal des Holocaust gesehen, das ihn in der Menschheitsgeschichte als Singularität heraushebt.   

Dienstag, 18. Januar 2022

Radikalenerlass

 Radikalenerlass 1972 (Wikipedia)

Ich besinne mich, dass ich meinem Vorgesetzten sagte, er bestätige mit "bietet jederzeit Gewähr" etwas, was ich selbst nicht von mir sagen könne. Antwort: "Stimmt, aber sonst werden sie nicht Beamter." Den Ursprung der Formulierung kannte ich bis heute nicht.


Gemeinsames Haus Europa und Nato-Osterweiterung

Aktualisierung am 18.2.2022 sieh hier!

"Bei seinem ersten Auslandsbesuch, in Frankreich im Herbst 1985, prägte Gorbatschow die Formulierung vom „gemeinsamen Haus Europa“. Dass dies in Paris geschah, war kein Zufall. Bereits Charles de Gaulle hatte die Idee eines Europas „vom Atlantik bis zum Ural“ verteidigt: ein „Europa der Vaterländer“, frei von jeglicher Bevormundung, in dem Russland dem Kommunismus entsagt hätte – den der General im Übrigen für eine vorübergehende Erscheinung hielt. Zu de ­Gaulles Zeiten kam diese Vision für Moskau jedoch kaum in Betracht: Die Sowjetunion hielt damals an der Teilung Europas und insbesondere Deutschlands fest, die das Fundament ihrer Präsenz im Herzen des Alten Kontinents war.

Die Rede vom „gemeinsamen Haus“ setzte auch auf eine Lockerung der Bande zwischen Washington und seinen europäischen Verbündeten, um die USA an den Verhandlungstisch zu zwingen.  [...]  Das Konzept vom „gemeinsamen Haus Europa“ erlangte 1988 aufgrund der Probleme innerhalb des sozialistischen Blocks strategische Bedeutung. Die sowjetische Planwirtschaft war in den Augen Gorbatschows nur noch mit der Zulassung von Privateigentum und einer teilweisen Öffnung in Richtung Markt vor dem Zusammenbruch zu retten. Die Forderungen nach mehr Demokratie in Osteuropa bestärkten ihn darin, dass auch eine politische Öffnung alternativlos war. Der Exdiplomat Wladimir Lukin erwartete damals eine „Rückkehr nach Europa“ und damit in eine Zivilisation, „an deren Peripherie wir lange verharrt hatten“ (siehe Kasten).

Auch Alexander Samarin, erster Botschaftsrat Russlands in Paris, sagt heute: „Das System war am Ende, und es gab keinen Zweifel daran, dass der Kommunismus abgeschafft werden musste.“ Er erinnert daran, dass sein Land, das seit 1998 der Welthandelsorganisation (WTO) angehört, mittlerweile „kapitalistisch“ und „antiprotektionistisch“ ist."

(ALS MOSKAU VON EUROPA TRÄUMTE von Hélène Richard Le Monde diplomatique 13.09.2018)

Andererseits wurde nach der 1999 begonnenen Nato-Osterweiterung die Orange Revolution 2004 in der Ukraine durchaus vom Westen unterstützt:

"Die Aktivisten dieser Bewegungen wurden von einer Koalition professioneller westlicher Berater, Helfer und Meinungsforscher ausgebildet. Die Aktivitäten wurden von westlichen Regierungen, Agenturen und Organisationen finanziert und unterstützt, zum Beispiel von der Konrad-Adenauer-Stiftung[6] und – laut der britischen Tageszeitung The Guardian – durch das US-Außenministerium (State Department) und USAID zusammen mit dem National Democratic Institute, dem International Republican Institute, der zum großen Teil von der amerikanischen Regierung finanzierten Organisation Freedom House und dem Milliardär George Soros mit seinem Open Society Institute. Die deutsche Wochenzeitung Die Zeit behauptete unter anderem, Juschtschenko und seine Kreise erhielten allein aus den USA mindestens 65 Millionen US-Dollar über verschiedene Kanäle. Ziel der USA sei es, auf diese Weise die NATO auszudehnen und die EU zu schwächen.[7][8][3]" (Wikipedia)

Zusammen mit den Protesten vom Euromaidan (2013/14) führte das dazu, dass der russlandfreundliche Präsident der Ukraine Wiktor Janukowytsch nach Russland floh und seit 2014 ein Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine besteht, das seit 2016 vorläufig angewandt wird. 

Dazu die Wikipedia:

"Das Verhalten der Europäischen Union wurde international von Politikern kritisiert. Das Freihandelsabkommen der EU (DCFTA) schließe intensive wirtschaftliche Beziehungen der Ukraine zu ihren bedeutendsten Wirtschaftspartnern in der von Russland geführten Zollunion weitgehend aus. Damit habe man der Ukraine nur ein „Entweder-oder“ angeboten, also die Ukraine nicht als Brücke zwischen der EU und Russland verstanden. Auf diese Weise habe man die derzeitige politische Krise in der Ukraine mitverursacht.

Altkanzler Helmut Schmidt bezeichnete in einem Interview im Mai 2014 die Politik der EU-Kommission als unfähig und größenwahnsinnig. Sie mische sich in die Weltpolitik ein und provoziere damit die Gefahr eines Krieges."

Dass einseitige Provokationen von Russland ausgingen, ist insofern kaum haltbar.

Freitag, 14. Januar 2022

euro|topics: Koblenz: Lebenslänglich für syrischen Folterer

 

Das Oberlandesgericht in Koblenz hat Anwar R. im weltweit ersten Strafprozess um Staatsfolter in Syrien wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt. Der ehemalige Vernehmungschef eines syrischen Geheimdienst-Gefängnisses soll für die systematische Folter von mindestens 4.000 Menschen verantwortlich gewesen sein. Europas Presse begrüßt das Urteil, sieht aber noch viel Handlungsbedarf.

LE TEMPS (CH)

Mahnung an Peiniger weltweit

Das Verfahren ist rundum zu würdigen, findet Le Temps:

„Man muss diese Verurteilung begrüßen, ebenso wie die darin zum Ausdruck kommenden Fortschritte der internationalen Justiz und die davon ausgehende Warnung an die Folterer und deren Vorgesetzte in Syrien und anderswo: Keine Grenze darf die Verantwortlichen von Verbrechen solchen Ausmaßes schützen. Ebenfalls in jeglicher Hinsicht bewundernswert ist die unermüdliche Arbeit der syrischen Opfer und der Organisationen, die Beweise und finanzielle Mittel zusammengetragen haben - aber auch der Mut der Zeugen, die teils Gefahr liefen, das Schicksal ihrer Angehörigen zu gefährden.“

Luis Lema
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LA STAMPA (IT)

Den Haag wurde von China und Russland blockiert

Koblenz springt da ein, wo Den Haag gescheitert ist, wirft La Stampa ein:

„Für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wäre der Internationale Gerichtshof in Den Haag eigentlich der richtige Ort gewesen. Doch bereits 2014 hatten die Gegenstimmen Chinas und Russlands den ersten Versuch des UN-Sicherheitsrats blockiert, die Kriegsverbrechen in Syrien durch den Haager Gerichtshof aufzuklären. Nach der UN-Antifolterkonvention von 1984 und den 2002 in das internationale Strafrecht aufgenommenen Grundsätzen ist es möglich, bestimmte Kategorien schwerer Verbrechen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Opfer und der Täter zu verfolgen, auch unter Anwendung der nationalen Gerichtsbarkeit.“

Uski Audino
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DER TAGESSPIEGEL (DE)

Das Morden wird weitergehen

Für den Tagesspiegel ist es ein historisches Urteil, das aber zugleich auch ernüchtert:

„[W]eil Baschar al Assad als oberster Befehlshaber nicht auf der Anklagebank Platz nehmen musste und es wohl nie tun muss. ... Der Despot, der Krieg gegen das eigene Volk führt, hat nichts zu befürchten. Die oft zitierte Weltgemeinschaft hat sich mit ihm und seiner Herrschaft arrangiert. Das ist der bittere Beigeschmack des Koblenzer Prozesses. Das Morden und Foltern in Syrien wird weitergehen. Daran ändert auch das Urteil gegen Anwar R. nichts.“

Christian Böhme
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TAGES-ANZEIGER (CH)

Manche Folterkeller bleiben außen vor

Der Tages-Anzeiger hält es für keinen Zufall, dass andere Staaten geschont werden:

„Der Einsatz der deutschen Justiz ist durchaus nicht frei von politischen Eigeninteressen. Man sieht das daran, welche Länder die Ermittler schonen. Die Folterkeller des ägyptischen Diktators al-Sisi beispielsweise, über die Menschenrechtsorganisationen auch eine Menge zu berichten wissen, sind für sie kein Thema. Auch die Folter in amerikanischen Gefangenenlagern im Nahen und Mittleren Osten oder in Guantánamo haben sie sich nie näher angesehen. ... Und trotzdem ist es richtig, dass die deutsche Justiz jetzt derart stark gegen Syrien vorangeht.“

Ronen Steinke
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Samstag, 8. Januar 2022

Zum Versprechen, dass es keine Nato-Osterweiterung geben werde

Aktualisierung am 18.2.2022 sieh hier!

"Wesentlich für die Behauptung einer Zusage an die Sowjetunion sind Gespräche im Februar 1990 zwischen dem damaligen US-Außenminister James Baker und Staatschef Michail Gorbatschow. Einem Memorandum zufolge sagte Baker damals: Die Amerikaner hätten verstanden, dass für die Sowjetunion und andere europäische Länder Garantien wichtig seien für den Fall, dass die USA ihre Präsenz in Deutschland im Rahmen der NATO beibehalten würden, "sich die gegenwärtige Militärhoheit der NATO nicht ein Zoll in östlicher Richtung ausdehnen wird". Gemeint war jedoch das Gebiet der DDR - an eine NATO-Mitgliedschaft von Staaten des 1990 noch bestehenden Warschauer Paktes war damals nicht zu denken.

Putin verwies in München auf eine Aussage des damaligen NATO-Generalsekretärs Manfred Wörner am 17. Mai 1990: "Schon die Tatsache, dass wir bereit sind, die NATO-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien." Auch hier war das Gebiet der DDR gemeint. Das wird an einem weiteren Satz Wörners deutlich, den er danach sagte: "Wir könnten uns eine Übergangszeit vorstellen, in der eine verringerte Anzahl von Sowjettruppen in der heutigen DDR stationiert bleiben." Die Wiedervereinigung fand Monate später, am 3. Oktober 1990, statt. Der Abzug der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der ehemaligen DDR zog sich bis 1994 hin.[...] 

Gorbatschow selbst zitierte mehrfach die Worte, wonach sich die NATO keinen Zentimeter nach Osten bewegen würde, so auch in einem Interview mit der "Bild" im Jahr 2009. Fünf Jahre später sagte er im ZDF jedoch, es sei 1990 um das Territorium der DDR gegangen. Eine NATO-Expansion sei damals nicht diskutiert worden: "Der Warschauer Pakt existierte doch noch. Die Frage stellte sich damals gar nicht." Es sei ein Mythos, dass er vom Westen betrogen worden sei." (Hat die Nato Versprechen gebrochen? Tagesschau.de 3.12.21) 

Dazu vgl. auch: "Es gab kein Versprechen darüber, dass die Ostblockstaaten nicht in die NATO aufgenommen würden. Dazu sagte Gorbatschow am 8.11.2014: Damals gab es ja noch den Warschauer Pakt. Die Frage stellte sich nicht." (Michail Gorbatschow der Weltveränderer, Fontanefans Schnipsel 1.3.2016)

Einschub vom 20.8.23: Inzwischen sind aber Dokumente aufgetaucht, die deutlich machen, dass noch während des Bestehens des Warschauer Paktes (und zwar am 6.3.1991) über eine denkbare NATO-Mitgliedschaft Polens der deutsche Diplomat Chrobog festhielt: "Wir haben deutlich gemacht, dass wir die NATO nicht über die Elbe hinaus ausdehnen. Wir können daher Polen und den anderen keine NATO-Mitgliedschaft anbieten." (Archivfund ..., Die Welt 18.2.2022 und Lüders: Moral über alles, 2023, S.134)

Andererseits wurde nach der 1999 begonnenen Nato-Osterweiterung die Orange Revolution 2004 in der Ukraine durchaus vom Westen unterstützt:

"Die Aktivisten dieser Bewegungen wurden von einer Koalition professioneller westlicher Berater, Helfer und Meinungsforscher ausgebildet. Die Aktivitäten wurden von westlichen Regierungen, Agenturen und Organisationen finanziert und unterstützt, zum Beispiel von der Konrad-Adenauer-Stiftung[6] und – laut der britischen Tageszeitung The Guardian – durch das US-Außenministerium (State Department) und USAID zusammen mit dem National Democratic Institute, dem International Republican Institute, der zum großen Teil von der amerikanischen Regierung finanzierten Organisation Freedom House und dem Milliardär George Soros mit seinem Open Society Institute. Die deutsche Wochenzeitung Die Zeit behauptete unter anderem, Juschtschenko und seine Kreise erhielten allein aus den USA mindestens 65 Millionen US-Dollar über verschiedene Kanäle. Ziel der USA sei es, auf diese Weise die NATO auszudehnen und die EU zu schwächen.[7][8][3]" (Wikipedia)

Zusammen mit den Protesten vom Euromaidan (2013/14) führte das dazu, dass der russlandfreundliche Präsident der Ukraine Wiktor Janukowytsch nach Russland floh und seit 2014 ein Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine besteht, das seit 2016 vorläufig angewandt wird. 

Dazu die Wikipedia:

"Das Verhalten der Europäischen Union wurde international von Politikern kritisiert. Das Freihandelsabkommen der EU (DCFTA) schließe intensive wirtschaftliche Beziehungen der Ukraine zu ihren bedeutendsten Wirtschaftspartnern in der von Russland geführten Zollunion weitgehend aus. Damit habe man der Ukraine nur ein „Entweder-oder“ angeboten, also die Ukraine nicht als Brücke zwischen der EU und Russland verstanden. Auf diese Weise habe man die derzeitige politische Krise in der Ukraine mitverursacht.

Altkanzler Helmut Schmidt bezeichnete in einem Interview im Mai 2014 die Politik der EU-Kommission als unfähig und größenwahnsinnig. Sie mische sich in die Weltpolitik ein und provoziere damit die Gefahr eines Krieges."

Dass einseitige Provokationen von Russland ausgingen, ist insofern kaum haltbar.

Ergänzend (nicht Teil meiner Argumentation):

Karl-Jürgen Müller* auf den Nachdenkseiten

Aus den Verhandlungen im französischen Rambouillet Anfang 1999, wenige Wochen vor Beginn des völkerrechtswidrigen Nato-Krieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, ist Folgendes überliefert: Ein hochrangiger serbischer Politiker versuchte einem US-General mit einer faktenreichen Darlegung begreiflich zu machen, dass die gegen Serbien erhobenen Vorwürfe nicht den Tatsachen entsprechen und die Forderung der Nato nach Aufgabe der serbischen Souveränität, konkret die Forderung nach absoluter Bewegungsfreiheit und Immunität der geplanten Nato-Soldaten in der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien (so Annex B des von den Nato-Staaten vorgelegten Vertragsentwurfes), in keiner Weise gerechtfertigt ist. Die Antwort des US-Generals war kurz und bündig: Nicht die Fakten seien entscheidend, sondern das, was «wir», USA und Nato, wollen. Das Beispiel bringt sehr anschaulich zum Ausdruck, was es bedeutet, wenn in den internationalen Beziehungen Macht vor Recht geht.

Dass in den internationalen Beziehungen nun schon lange Macht vor Recht geht, ist ein offenes Geheimnis. Wenn Macht vor Recht geht, können diejenigen, die der Macht den Vorrang geben, aber öffentlich nicht so offen sprechen wie der US-General in Rambouillet. Also wird versucht, die öffentlichen Worte so zu wählen, dass es klingt, als wenn man nur das «Rechte» wolle. Die Geschichte ist voll von solchen amtlichen Zurechtbiegungen. Auch unsere Gegenwart.

Gegensätzliche Behauptungen zur Nato-Osterweiterung

Hier soll nur ein aktuelles Beispiel herausgegriffen werden, das bei den laufenden Verhandlungen zwischen USA und Nato auf der einen und Russland auf der anderen Seite eine wichtige Rolle spielt: Die russische Führung behauptet, während der Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung sei der damaligen sowjetischen Führung zugesagt worden, es werde keine Nato-Osterweiterung geben. USA und Nato behaupten das Gegenteil: Eine solche Zusage habe es nie gegeben, es sei nur um Deutschland gegangen, vor allem aber liege kein schriftlicher Vertrag über eine solche Zusage vor. … Außerdem hätte Russland 1997 die Nato-Osterweiterung vertraglich akzeptiert.

Eine der vielen prominenten Nato-Stimmen, die so argumentieren, ist der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz und frühere deutsche Diplomat, Wolfgang Ischinger. So ist in einem Interview mit dem Deutschlandfunk vom 10. Januar 2022 zu lesen:

„Deutschlandfunk: Herr Ischinger, Moskau argumentiert ja immer wieder, der Westen habe zugesagt, dass sich die Nato nicht weiter Richtung Osten ausweitet – nach dem Fall der Mauer 89, dann 90 auch. […] Ist da nichts dran?

Ischinger: Nein, da ist nichts dran. Richtig ist, dass es damals im Zusammenhang mit den Verhandlungen über den 2+4-Vertrag Gespräche und einen mündlichen Austausch gegeben hat über die Beschränkungen, die man westlicherseits akzeptieren würde. Da ging es um die Einbeziehung der früheren DDR in die Bundesrepublik Deutschland, um die Vereinigung. Es ging um die Frage einer Nato-Mitgliedschaft und so weiter. […] Dieses Gewispere, dieses Geraune über gebrochene Versprechungen, das ist doch spätestens seit 1997 völlig vom Tisch, weil 1997 […] die Russische Föderation amtlich und schriftlich die Nato-Erweiterung als Prinzip akzeptiert und die Modalitäten der Nato-Erweiterung mit dem Westen ausverhandelt hat. Die Nato-Russland-Grundakte ist das Dokument, mit dem Russland schriftlich die Nato-Erweiterung vor nunmehr 25 Jahren akzeptiert hat.“

Was ist davon zu halten?

1997 tat Russland noch, was USA und Nato forderten

In den 90er Jahren haben sich die russische Führung und der russische Präsident Boris Jelzin in fast allen Politikbereichen weitgehend an den Vorgaben aus den USA orientieren müssen. USA und Nato waren damals ganz offensichtlich mächtiger, Russland hatte den Übergang vom Sowjetsystem und die ihm vom Westen aufgezwungene «Schockstrategie» (Naomi Klein) zu verarbeiten. 1997 – das Jahr, in dem die Nato-Russland-Grundakte von Russland unterzeichnet wurde – ist das Jahr, in dem auch Zbigniew Brzezinskis Buch «The Grand Chessboard» – in deutscher Übersetzung 1999: «Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft» – erschienen ist. Im Frühjahr 1997 hatten US-amerikanische Neokonservative in Washington D.C. das «Project for the New American Century» (PNAC) gegründet, mit dem für die weltweite Führerschaft der USA geworben werden sollte. [1] USA und Nato betrachteten Russland 1997 nicht als gleichwertigen Partner – darüber können auch die zum Teil «schönen» Formulierungen in der Nato-Russland-Grundakte [2] nicht hinwegtäuschen. Etwas zugespitzt muss man sagen: USA und Nato machten die Vorgaben … und Russland musste akzeptieren.

Offener Brief aus den USA warnte vor Nato-Osterweiterung

Und wie passt es zu den Aussagen von Herrn Ischinger, dass es einen Monat nach der Unterzeichnung der Nato-Russland-Grundakte, im Juni 1997, einen Offenen Brief an den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton gegeben hatte, der eindringlich vor einer Nato-Osterweiterung warnte?[3] Unterzeichnet hatten 50 ehemalige US-Senatoren, Regierungsmitglieder, Botschafter, Abrüstungs- und Militärexperten. Zu ihnen gehörten der Verteidigungsexperte des Senats Sam Nunn, die Senatoren Gary HartBennett JohnstonMark Hatfield und Gordon J. Humphrey sowie die Botschafter in Moskau Jack Matlock und Arthur Hartman, Reagans Abrüstungsunterhändler Paul Nitze, Verteidigungsminister a.D. Robert McNamara, der ehemalige Direktor des CIA, Admiral James D. Watkins, Admiral Stansfield Turner, der Diplomat Philip Merrill, die Wissenschaftler Richard Pipes und Marshall D. Shulman und auch die Enkeltochter des US-Präsidenten Eisenhower.

Der Brief bezeichnet die Beitrittsangebote der Nato als «politischen Irrtum von historischen Ausmaßen» und wies unter anderem darauf hin, dass in Russland die Nato-Osterweiterung «im gesamten politischen Spektrum» abgelehnt wird. Zudem sei Russland für keinen seiner Nachbarn eine Bedrohung.

Aber schon im Juli 1997, zwei Monate nach der Unterzeichnung der Nato-Russland-Grundakte und einen Monat nach dem Offenen Brief aus den USA, wurden den ersten drei Beitrittskandidaten – Polen, Tschechien und Ungarn – Beitrittsverhandlungen angeboten. Die Nato-Osterweiterung war schon lange vorher beschlossene Sache, nicht das Ergebnis von Verhandlungen mit Russland. Und die wenigen Zugeständnisse an Russland – wie sich seit ein paar Jahren zeigt – leicht zu unterlaufen.

Studie einer US-Universität: Nato-Osterweiterung gegen gegebene Zusagen

Marc Trachtenberg, Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Kalifornien in Los Angeles, hat im November 2020 eine rund 50 Seiten umfangreiche wissenschaftliche Untersuchung vorgelegt, die 30 Jahre nach 1990 nochmals der Frage nachging, was der sowjetischen Führung in den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung mit Blick auf die Nato-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands, aber auch mit Blick auf eine denkbare Nato-Osterweiterung mündlich zugesagt wurde. [4] Der Titel der Untersuchung lautet: «The United States and the NATO Non-extension Assurances of 1990. New Light on an Old Problem?» («Die USA und die Zusicherungen aus dem Jahr 1990, die Nato nicht zu erweitern. Neues Licht auf ein altes Problem?»)

Das gut belegte Ergebnis der Studie ist: Anders als bei uns im Westen weithin und auch von Herrn Ischinger behauptet, beinhalteten die Zusagen an die sowjetische Führung sehr wohl auch, dass es keine Nato-Osterweiterung – über Ostdeutschland hinaus – geben sollte. Die verhandelnden Politiker der USA, Deutschlands und der Sowjetunion waren sich schon bei den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung der Tatsache bewusst, dass sich der Warschauer Pakt bald auflösen könnte – tatsächlich löste er sich erst am 1. Juli 1991 auf – und einige der ehemaligen Mitgliedsstaaten eine Mitgliedschaft in der Nato anstreben könnten. Eben deshalb machte der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher – mit Zustimmung des US-amerikanischen Amtskollegen James Baker – die erwähnten Zusagen. Und diese waren, obwohl nur mündlich gegeben, auch bindend.

An dieser Stelle soll die Studie von Marc Trachtenberg nicht ausführlich wiedergegeben werden. Mit der Empfehlung, den gesamten Text (auf Englisch) zu lesen, soll hier lediglich auf einen Vorgang (Seite 15ff.) hingewiesen werden.

Genscher und Baker 1990: keinerlei Absicht, die Nato Richtung Osten auszuweiten

In einer gemeinsam mit James Baker abgehaltenen Pressekonferenz am 3. Februar 1990, eine Woche vor entscheidenden Verhandlungen mit der sowjetischen Führung in Moskau, sagte der deutsche Außenminister Genscher: «Vielleicht darf ich hinzufügen, dass wir [Baker und Genscher] voll darin übereinstimmten, dass es keinerlei Absicht gibt, den Nato-Verteidigungs- und Sicherheitsbereich in Richtung Osten zu erweitern. Das gilt nicht nur für die DDR […], sondern auch für alle anderen östlichen Länder. Wir sind derzeit Zeugen dramatischer Entwicklungen im gesamten Osten, im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe [Wirtschaftsorganisation des Ostblocks] und im Warschauer Pakt. Ich denke, das ist ein Teil der Partnerschaft für Stabilität, die wir dem Osten anbieten können, indem wir ganz klar machen: Was auch immer innerhalb des Warschauer Paktes passiert, auf unserer Seite gibt es keinerlei Absicht, unser Verteidigungsgebiet – das Verteidigungsgebiet der Nato – Richtung Osten auszuweiten.» [5] Beim Treffen in Moskau am 9. und 10. Februar 1990 wurde dies auch gegenüber den sowjetischen Verhandlungsführern nochmals unterstrichen. Genscher sagte am 10. Februar dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse: «Für uns stehe aber fest: Die Nato werde sich nicht nach Osten ausdehnen. […] Was im übrigen die Nichtausdehnung der Nato anbetreffe, so gelte dies ganz generell.» Interessant ist auch: Der US-Außenminister hatte am 9. Februar die Nato-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands gegenüber dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow mit dem Argument begründet, mit der Einbindung in die Nato könne ein Deutschland wie vor dem Zweiten Weltkrieg verhindert werden.

Was ist «clever»?

Später haben Genscher und Baker ihre Aussagen vom Februar 1990 relativiert. Es sei alles nicht so gemeint gewesen, wie es gesagt wurde. Man habe «der sowjetischen Führung ‹über die Hürde helfen› wollen, einem wiedervereinigten Nato-Mitglied Deutschland zustimmen zu können». [6] Auch US-Präsident Bush wollte schon Ende Februar 1990 nichts mehr von solchen Zusagen wissen. Ende Februar 1990 sagte er dem deutschen Kanzler Kohl: «Wir werden das Spiel gewinnen, aber wir müssen clever dabei sein.» [7]

So bleibt die Frage, wie gut diese Art von «Cleverness», die bis heute zum Zuge kommt, für die internationalen Beziehungen, für das Recht und für den Frieden ist und wie lange eine solche «Cleverness» noch akzeptiert wird.

Titelbild: Pavlo Lys / Shutterstock


[*] Der Autor Karl-Jürgen Müller ist pensionierter Lehrer für die Fächer Deutsch, Geschichte und Politik.

[«1] vgl. de.wikipedia.org/wiki/Project_for_the_New_American_Century

[«2nato.int/cps/en/natohq/official_texts_25468.htm?selectedLocale=de

[«3armscontrol.org/act/1997-06/arms-control-today/opposition-nato-expansion

[«4] Der Text vom 25. November 1990 kann im Internet heruntergeladen werden: sscnet.ucla.edu/polisci/faculty/trachtenberg/cv/1990.pdf. Die etwas kürzere Fassung der Veröffentlichung in der Zeitschrift International Security, Ausgabe Winter 2020/21, S. 162–203, ist zwar auch über das Internet erhältlich, aber kostenpflichtig.

[«5] Rückübersetzung aus dem bei Trachtenberg in Englisch wiedergegebenen Text

[«6] So rechtfertigte zum Beispiel Hans-Dietrich Genscher später laut Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. April 2014 («Ost-Erweiterung der Nato. Das große Rätsel um Genschers angebliches Versprechen») seine Zusagen aus der ersten Februarhälfte 1990.

[«7] Trachtenberg zitiert den US-Präsidenten auf Seite 33 oben und verweist dabei auf einen 2016 erschienenen Beitrag von Joshua R. Itzkowitz Shifrinson. «Deal or No Deal? The End of the Cold War and the U.S. Offer to Limit NATO Expansion» (belfercenter.org/sites/default/files/files/publication/003-ISEC_a_00236-Shifrinson.pdf), wo das Zitat auf Seite 40 mit Belegstelle wiedergegeben wird.

Nachbemerkungen:

  1. Ich verweise wie schon des Öfteren darauf, dass die SPD in ihrem Berliner Grundsatzprogramm vom 20. Dezember 1989 beschlossen hatte, dass zusätzlich zur Auflösung des Warschauer Paktes auch die Auflösung der NATO in Betracht gezogen werden sollte. So vernünftig war man damals. Zum Ende der Block-Konfrontation gehörte auch die Frage, was für einen Sinn die NATO insgesamt noch hat. Diese Frage zu stellen, war berechtigt, wie man im weiteren Verlauf sieht. Die NATO suchte mit der Unterstützung der Rüstungswirtschaft Betätigungsfelder auch außerhalb des eigentlich vereinbarten Betätigungsfeldes, der Verteidigung ihrer Mitglieder. Die NATO und die hinter ihr steckenden Kräfte starteten Auslandseinsätze wie zum Beispiel in Afghanistan.
  2. Wie vernünftig und anders als die zurzeit herrschende Meinung man den ganzen Komplex sehen kann, wird in einem Gastkommentar Günter Verheugens sichtbar, der am 7.1.2022 veröffentlicht wurde.