Angesichts der Not des Globalen Südens und der Notwendigkeit einer weltweiten Strategie zur Begrenzung der Klimaerwärmung ist Wandel durch Annäherung die notwendige Strategie des Westens gegenüber China, nicht nur realpolitisch im nationalen Interesse europäischer Staaten, sondern auch moralisch.
Doch Lüders liefert hervorragendes Material zu den Fehlentscheidungen westlicher Politik seit 1990.
Michael Lüders: Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen, 2023
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Rezension:
Das Erste
Zitate:
"Kann es gelingen, den größten Flächenstaat der Welt und einen der wichtigsten Energielieferanten wirtschaftlich in die Knie zu zwingen? Die sachliche Antwort lautet kurz und bündig: nein. Allein schon deswegen nicht, weil sich der Globale Süden an den Sanktionen nicht beteiligt, abgesehen von einigen wenigen pro-westlichen Staaten. Es verwunderte daher nicht, dass die Folgen der Boykottmaßnahmen Deutschland härter treffen als jedes andere westliche Land und, wie es scheint, auch mehr als Russland selbst. (S.12)
Das eigene Land in nicht geringen Teilen auf dem Altar des Moralismus zu opfern, weit über die gebotene Solidarität mit der Ukraine hinaus, ist keine Politik, sondern ein Offenbarungseid. [...] Wer nie gelernt hat, in der Wirklichkeit zu lesen, geopolitisch und strategisch zu denken wie zu handeln, den bestraft das Leben." (S.13)
"Von jetzt auf gleich die Energiepartnerschaft mit Russland zu beenden, ohne Rücksicht auf Verluste, das ist und bleibt ein Jahrhundertfehler deutscher Politik." (S.67)
[Nicht so optimistisch! Das Jahrhundert ist noch lang. Fonty]
"Nach dem 2011 angekündigten Atomausstieg setzte Deutschland verstärkt auf russisches Gas als Brückentechnologie für den Übergang zur viel besprochenen Nachhaltigkeit grüner Energieträger. Zum wachsenden Unwillen Washingtons, dass mithilfe der übermächtigen transatlantischen Netzwerke in Deutschland, deren Sichtweise Politik und Medien dominieren, jahrelang massiven Druck insbesondere auf die Regierung Merkel ausübte. Mit dem Ziel, Nord Stream 2 aus geopolitischen Gründen aufzugeben, verstärkt nach der Krim-Annexion.
Damals verständigen sich Berlin und Moskau darauf, ihre Gasgeschäfte und Infrastrukturen als rein kommerzielles Projekt zu definieren, um es soweit wie möglich vor den Unwägbarkeiten der Weltkonjunktur und der russlandfeindlichen Politik Washingtons zu schützen. [...]
Wer im Verhältnis zwischen den USA und Deutschland das Sagen hat und künftig die deutsche Energiepolitik bestimmen wird, stellte US-Präsident Joe Biden im Beisein von Kanzler Olaf Scholz am 7. Februar 2022 im Weißen Haus unmissverständlich klar. Wenn Russland in die Ukraine einmarschiere, so der amerikanische Wertepartner, 'dann wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden das beenden.' " (S. 68)
Im März 2023 ging der Bundesrechnungshof in einer Stellungnahme zur Aufstellung des Bundeshaushalt 2024 mit dem Finanzgebaren der Ampel-Koalition scharf ins Gericht und forderte sie auf, den ungebremsten Anstieg der Staatsverschuldung endlich zu beenden. Der Bund habe 'in kürzester Zeit' fast 850 Milliarden Euro an neuen Krediten verplant – dagegen muten die rund 1,3 Billionen in den Jahrzehnten zuvor, seit Gründung der Bundesrepublik 1949, fast bescheiden an. 'Diese Dynamik und Ihre Folgen drohen die Tragfähigkeit der Bundesfinanzen und damit auch die staatliche Handlungsfreiheit ernsthaft zu gefährden', so der Bundesrechnungshof [...] [Habeck:] 'Der soziale Frieden in Deutschland wird arg herausgefordert und strapaziert.' (S 69)
So wie der Bundestag über einen wissenschaftlichen Dienst verfügt, unterhält auch der US-Kongress einen 'Congressional Research Service'. Dieser präsentierte im März 2022 unter dem Titel 'Instances of Use of United States Armed Forces Abroad, 1798-2022' eine Studie über Auslandseinsätze der US-Streitkräfte. Ihr zufolge haben die USA zwischen 1798 und 1990 in 218 Fällen im Ausland militärisch angegriffen, zwischen 1991 und 2022 erfolgten 251 Entsendungen. Aufgezählt in dieser Studie werden 'Hunderte von Fällen, in denen die Vereinigten Staaten ihre Streitkräfte im Ausland eingesetzt haben, und zwar unter den Rahmenbedingungen eines militärischen oder potentiellen Konflikts, jenseits üblicher Zwecke in Friedenszeiten'. (S.92)
In der Nachkriegszeit, bis in die 1990er Jahre hinein, gab es einen Konsens in der deutschen Politik jenseits aller Parteigrenzen: Nie wieder Krieg. Dieser Konsens hat sich, beginnend mit den ersten Überlegungen, deutsche Soldaten an Auslandseinsätzen der NATO zu beteiligen, endgültig verflüchtigt. Als es dann tatsächlich dazu kam, in Serbien und im Kosovo 1999, begründete der grüne Außenminister Joschka Fischer diese Expedierung der Bundeswehr mit einer ultimativ das Gute beschwörenden Mahnung: Nie wieder Ausschwitz. Er nahm damit Bezug auf das 1995 von Serbien begangenen Massaker an bosnischen Muslimen in Sebrenica.Diese auf Eliteebene unwidersprochene politische Instrumentalisierung deutscher
Erinnerungskultur unterstreicht, wie einfach es auch in einer vermeintlich aufgeklärten Gesellschaft sein kann, für den Krieg zu trommeln. Fischers
Geschichtsklitterung, sein magisches Schwert, erschloss gewissermaßen eine neue Dimension: Damit wurde der zur
rhetorischen Waffe geschmiedete
Moralismus endgültig salonfähig und sah sich von Afghanistan bis in die Ukraine zu immer neuen Höchstleistungen inspiriert." (S.114)
"Gehör fand lange Zeit, wer am lautesten Waffenlieferungen und den Sieg der Ukraine einforderte. Worin aber sollte der bestehen? In einer Rückeroberung der Krim, selbst um den Preis einer möglichen nuklearen Konfrontation? Glaubt irgendjemand ernsthaft, die russische Atommacht würde sich in der Ukraine militärisch niederringen lassen, kapitulieren gar?" (S.122)
"Transatlantisch eingebettete Russland-Gegner betonen gerne, es haben nie Zusagen gegenüber dem letzten sowjetischen Staatschef Michael Gorbatschow gegeben, die NATO nicht in Richtung Osten zu erweitern. Diese Behauptung ist sachlich falsch. Wie nicht zuletzt freigegebene Dokumente des 'National Security Archive' in Washington unmissverständlich belegen, hat es wiederholt unzweideutige Versicherungen gegeben, die NATO eben nicht in Richtung Osten auszudehnen. Vonseiten führender Politiker der USA, vor allen voran Präsident George H. W. Bush und Außenminister James Baker, aber auch von europäischen Repräsentanten, darunter Bundeskanzler Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher, ebenso von Seiten des französischen Präsidenten Francois Metterand und der britischen Premierministerin Margret Thatcher. Am bekanntesten ist wohl die Aussage Bakers vom 9. Februar 1990 gegenüber Gorbatschow, die NATO wird sich 'nicht einen Zentimeter ostwärts' bewegen ('not one inch eastward‘). Er versicherte das immerhin dreimal an einem Tag, bei einem Treffen in Helsinki, als Replik auf Gorbatschows unmissverständlichen Hinweis, dass eine Osterweiterung der NATO für Russland inakzeptabel sei. Es ist durchaus bemerkenswert, dass CIA-Direktor Robert Gates später 'die forcierte Osterweiterung der NATO' in den 1990er Jahre kritisierte, 'obwohl man Gorbatschow und andere glauben ließ, das werde nicht geschehen' (Kursivsetzung durch den Autor)." (S.133)
"Obwohl die Faktenlage klarer kaum sein könnte, galt die Zusage, die NATO nicht in Richtung Osten zu erweitern, in den Medien wie auch in der Politik bald schon als russische Propaganda. Dass dem nicht so ist, verdankt sich auch neuen Erkenntnissen, wie sie im Februar 2022 zunächst im Spiegel nachzulesen war. 'Wir haben deutlich gemacht, dass wir die NATO nicht über die Elbe hinaus ausdehnen', schrieb der deutsche Diplomat Jürgen Chrobog demzufolge über ein Treffen hochrangiger Außenpolitiker der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands am 6. März 1991 in Bonn. [...] Wir können daher Polen und den anderen keine NATO-Mitgliedschaft anbieten.' Auch Briten, Franzosen und Amerikaner lehnten das ab. Der US Vertreter Raymond Seitz hielt fest: 'Wir haben gegenüber der Sowjetunion klargemacht – bei Zwei-plus-Vier- wie auch in anderen Gesprächen, dass wir keinen Vorteil aus dem Rückzug sowjetischer Truppen aus Osteuropa ziehen werden.' " (S.134)
"Das große Versäumnis europäischer wie deutscher Politik nach 1990 liegt darin, keine neue Sicherheitsarchitektur geschaffen zu haben, die Russland mit einbezieht und parallel die eigene Verteidigungsfähigkeit organisiert – ohne US Dominanz."(S.243)"Die Amerikaner verlangen von den Europäern, insbesondere von uns Deutschen, zweierlei. Das wir die Rüstungsausgaben dauerhaft erhöhen und ein Großteil der Kriegskosten in der Ukraine inklusive der Folgekosten übernehmen, allen voran für den Wiederaufbau und die Dauersubventionierung des dortigen Staatshaushaltes. Und dass wir Gewehr bei Fuß stehen, sollte es zum Krieg zwischen den USA und China kommen. So gestaltet sich die Gefechtslage – jenseits wohlfeiler Rhetorik." (S.245)
Die Rede von "Gefechtslage" ist unnötig martialische Rhetorik, aber:
Realpolitisch sind schwere Fehler begangen worden, die insbesondere angesichts der Not des Globalen Südens und der Notwendigkeit einer weltweiten Strategie zur Begrenzung der Klimaerwärmung auch moralisch nicht zu rechtfertigen sind.
Wandel durch Annäherung ist daher die notwendige Strategie des Westens gegenüber China. Wie sie im einzelnen zu gestalten ist, also die Taktik, mögen Praktiker beurteilen. Die Augen vor der Realität des globalen Klimawandels und der Bedeutung Chinas und des Globalen Südens zu verschließen, hat keine moralische Rechtfertigung.
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