Mittwoch, 11. März 2020

Gesellschaft als Organisation sozialer Ungleichheit

Thomas Piketty: Kapital und Ideologie, 2020

Arno Widmann FR 11.3.20:
"2004 erklärte der US-Milliardär Warren Buffett, geboren 1930: „Wenn in Amerika ein Klassenkampf tobt, ist meine Klasse dabei, ihn zu gewinnen.“ [...]
Thomas Piketty zeigt, dass es diesen Klassenkampf gibt. Er zeigt, dass es ihn, solange die Geschichte zurückreicht, immer gegeben hat. Das Wort kommt bei ihm kaum vor. Er drückt sich anders aus. Er schreibt zum Beispiel: „Jede Gesellschaft, also jedes Ungleichheitsregime ...“ Das scheint mir eine zentrale Einsicht des Buches. Gesellschaft bildet sich nicht als Vertrag von Gleichen, sondern geht hervor aus einem Prozess der Unterwerfung. Für den werden Begründungen, Theorien, Ideologien herbeigeholt. Sie dienen nicht nur gegenüber den Unterworfenen als Rechtfertigung. Diese Mythen feuern auch die Sieger an. Sie verschaffen ihnen ihr Überlegenheitsgefühl. [...]
Frauen kommen in Thomas Pikettys Buch so gut wie nicht vor. Für ein Buch, das sich so grundsätzlich mit der Produktion und mit der Abschaffung von Ungleichheit beschäftigt, ist das eine völlig unverständliche Lücke.* Die ungleiche Behandlung der Frau ist eine die Menschheitsgeschichte fast überall, fast in jedem Moment durchziehende Konstante. [...]
Thomas Piketty : "Die verschiedenen menschlichen Gesellschaften haben in der Geschichte großen Erfindungsreichtum in der ideologischen und institutionellen Organisation sozialer Ungleichheiten bewiesen, und man wäre schlecht beraten, diese intellektuellen und politischen Konstruktionen bloß für einen trügerischen Deckmantel zu halten, der den Eliten dazu dient, ihre immer gleiche Herrschaft zu rechtfertigen.“ [...]"

* Meine Anmerkung: Nichts ist verständlicher als diese Lücke. Jemand, der daran geht, auf nur etwas über 1300 Seiten die ganze Marx-Engels-Ausgabe zu ersetzen, wird den Deubel daran tun, sich auch noch auf alle Spielarten weiblichen und männlichen Feminismus' einzulassen. - Nachdem Pickety den ersten Band seines Hauptwerkes "Das Kapital im 21. Jahrhundert" genannt hat, kam er nicht umhin, den zweiten "Kapital und Ideologie" nachzuliefern. Aber dass er deswegen befähigt wäre, nicht nur ein zweiter Marx, sondern auch noch eine zweite Simone de Beauvoir zu sein, dazu wird er sich bei allem - nicht völlig unberechtigten - Selbstbewusstsein gerade als Franzose gewiss nicht versteigen. 

Binswanger (sehr wichtig, weil er weitgehend die Argumentation von Piketty nachvollzieht, in meinem Exzerpt ist nur ein kleiner Tel nachzuvollziehen):
https://www.republik.ch/2019/10/12/ungleichheit-ist-kein-naturgesetz
"[...] Natürlich ist «Capital et idéologie» ein (nicht ganz einfach zu verdauendes) historisches Monumental­werk, aber es ist das Gegenteil einer Geschichts­philosophie. Hier werden keine abstrakten Annahmen getroffen – über das Wesen des Menschen, die Funktions­weise von Macht­systemen, die Natur ökonomischer Zwänge –, aus denen Welt­geschichte sich gleichsam extra­polieren liesse. Hier werden Erklärungs­modelle auf die Probe der Statistik gestellt, und es wird nachgezeichnet, wie sich die Erklärungs­modelle, die verschiedene Gesellschafts­systeme für ihre Verteilungs­strukturen entwickelten, über die Zeit verändert haben. [...]
Weshalb mutet Piketty [...] dem Leser eine solche Masse an historischen Rück­blenden zu? Weil nur historische Aufklärung das Bewusstsein schaffen kann, dass ökonomische Verhältnisse nicht von Natur­gesetzen diktiert werden: «Die Ungleichheit ist nicht ökonomisch und technologisch bedingt. Sie ist ideologisch und politisch. [...] Der Markt und der Wettbewerb, der Profit und die Löhne, das Kapital und die Schulden, hoch und niedrig qualifizierte Arbeits­kräfte, Staats­bürger und Ausländer, die Steuer­paradiese und die Konkurrenz­fähigkeit – nichts von alledem ist naturgegeben. Es handelt sich um soziale und sich historisch wandelnde Konstrukte, die vollständig vom Rechts-, Steuer-, Bildungs- und Politik­system abhängen, das zu errichten man sich entschieden hat, und von den Kategorisierungen, auf welche die Gesellschaft sich abstützt.» [...]
Jenseits aller historischen Tiefen­schürfungen und kultur­anthropologischen Exkursionen tut Piketty in seinem neuen Buch vor allem eins: Er stellt die relevanten Fragen. Die Fragen, die so grundlegend und simpel sind, dass sie im Grunde den Horizont jeder Stammtisch­diskussion bestimmen.
Warum ist in den meisten Teilen der westlichen Welt der Sozial­staat heute auf dem Rückzug und die Ungleichheit am Wachsen? [...]
Der Preis, den die aufklärerischen Kräfte für die Säkularisierung des politischen Systems bezahlt haben, war nach Piketty die Sakralisierung des Privat­eigentums: «Vom Augenblick an, wo man das Schema der Dreistände­gesellschaft aufgibt, das ja weitgehend auf einem transzendenten, religiösen Fundament ruht, muss man neue Antworten finden, um gesellschaftliche Stabilität zu garantieren. Die Sakralisierung des Eigentums ist in gewisser Weise eine Reaktion auf das Ende von Religion als expliziter politischer Ideologie.» [...]
Grossbritannien zum Beispiel ging seiner Zeit voraus und erliess 1833 ein Gesetz, das die Sklaverei verbot und den ehemaligen Sklaven die vollen Bürger­rechte verlieh. Doch es wurde noch etwas Weiteres mit dem Gesetz beschlossen: Die vormaligen Sklaven­besitzer wurden vom Staat in vollem Umfang entschädigt, in Höhe des Markt­wertes der Frei­gelassenen. Rund viertausend Sklaven­besitzer erhielten 20 Millionen Pfund Entschädigung für etwa 800’000 Sklaven – eine gigantische Summe, die damals 5 Prozent des britischen BIP ausmachte. [...]
Der wirkliche Fortschritt mit Bezug auf die Verteilungs­gerechtigkeit – es sei denn, man betrachtet das Ancien Régime als vorbildlich – kam mit den Turbulenzen der Weltkriegs­jahrzehnte, die den Boden für die «sozial­demokratische Phase» bereiteten. [...] Es waren nicht die physischen Zerstörungen der Kriege, sondern politische Entscheidungen, die in die «sozial­demokratische Phase» führten. Viele dieser Entscheidungen wurden aus der Not geboren und konnten nur in einer Krisen­situation so gefällt werden. Aber sie waren nicht alternativlos.[...] Im goldenen Zeitalter der Mittelstands­gesellschaft wurden die Reichstums­eliten massiv zur Kasse gebeten und die Unter­schichten nur sehr mässig besteuert. [...] Ein entscheidender Faktor ist der Untergang der Sowjet­union. Eindrückliche Kapitel schreibt Piketty über die post­kommunistischen Länder als Laboratorien des Hyper­kapitalismus.
Die Wahlbeteiligung sinkt [...] In der Wählerschaft haben sich spektakuläre soziologische Verschiebungen vollzogen. Piketty nennt sie «die Umdrehung der Bildungsspaltung». [...] Die Niedrig­qualifizierten wählen heute mehrheitlich rechts, die Linke erzielt die höchste Zustimmung bei den akademischen Eliten. [...] die Tatsache, dass in die künftigen Eliten massiv mehr investiert wird als in weniger erfolgreiche Auszubildende – betrachtet Piketty als einen der zentralen Gründe für die «Scheidung zwischen der Linken und der Unterschicht». Er plädiert deshalb für eine sozial ausgeglichenere Streuung von Bildungs­ausgaben. Auch in Jugendliche mit niedrigerem Qualifikations­niveau kann sinnvoll investiert werden, damit sie in der heutigen Dienstleistungs­gesellschaft erfolgreicher werden. [...] Piketty kommt jedoch zum Schluss, dass weder die Klassen­frage noch die Offenheits­frage eine vorrangige politische Konflikt­linie definiere. Womit wir es zu tun haben, sind zwei gleich­berechtigte Gegensatz­paare, deren Kombination zu vier relativ ausgeglichen starken Blöcken führt: soziale Internationalisten, soziale Nationalisten, elitäre Internationalisten, elitäre Nationalisten. [...] Die vier Blöcke können je etwa ein Viertel des Elektorats an sich binden und nicht allein, sondern nur in wechselnden Allianzen regieren. Das ist aus Pikettys Sicht der Grund, weshalb in Frankreich wie in vielen anderen Ländern das Parteien­system so unstabil geworden ist. Es fehlt der dominierende Grund­konflikt. Es gibt jetzt deren zwei. [...]«Die Rhetorik (der binären Auffassung) zielt natürlich darauf ab, die Progressiven für alle Ewigkeit an der Macht zu halten», sagt Piketty. «In Wirklichkeit riskiert sie aber, die Popularität der Nationalisten zu verstärken, besonders wenn es diesen gelingt, eine Form des sozialen Nationalismus zu entwickeln, das heisst eine Ideologie, die soziale und egalitäre Ziele verfolgt für die ‹im Land Geborenen› und den ‹nicht im Land Geborenen› mit harter Diskriminierung entgegentritt.» Eine progressive Politik, welche die Klassen­frage für überwunden erklärt und den Rechts­populismus zu ihrem exklusiven Gegner macht, läuft demnach Gefahr, ihm zum Sieg zu verhelfen. [...]
Das Kernstück von Pikettys Erneuerungs­programm bildet jedoch das klassischste Umverteilungs­programm der Welt: Steuern. Er hält sowohl Einkommens- als auch Vermögens­steuern, die stark progressiv sind, für unabdingbar, um die Mittelstands­gesellschaft der «sozial­demokratischen Ära» zu restaurieren. Ohne massive steuerliche Eingriffe werden die Vermögens- und Einkommens­disparitäten unerbittlich weiter zunehmen.
Das Szenario der heilsamen Progression
Bei den Einkommen soll der oberste Satz 90 Prozent betragen, eine Massnahme, die aus heutiger Sicht wahnwitzig radikal erscheint, die aber in den Nachkriegs­jahren in angel­sächsischen Ländern dem normalen Standard entsprach und die erst bei extrem hohen, um den Faktor 10’000 über dem mittleren Einkommen liegenden Einkünften greifen würde.
Da Milliardäre heute, wie Piketty schon in «Das Kapital im 21. Jahrhundert» darlegte, einen durchschnittlichen jährlichen Vermögens­zuwachs von 4 bis 8 Prozent erzielen, sollten Vermögens­steuern mindestens bei 5 bis 10 Prozent liegen. Andernfalls wird die Vermögens­konzentration an der Spitze der Reichtums­pyramide konstant bleiben beziehungs­weise immer weiter zunehmen.
Was Piketty vorschwebt, ist nicht eine Steuer­hölle in noch nie dagewesenen Dimensionen: Die Gesamt­abgaben-Quote würde in seinem Modell bei 50 Prozent liegen, also dort, wo sie sich in einigen skandinavischen Ländern und in Frankreich schon heute befindet. Neu wäre lediglich, dass das Steuer­system wieder wirklich progressiv gestaltet sein soll [...]
Piketty [... ] will das Privat­eigentum nicht abschaffen, ganz und gar nicht, aber er will es auch nicht sakralisieren. Vielmehr soll es gezielt so eingeschränkt werden und so fluid bleiben, dass seine Hyper­konzentration das wirtschaftliche und das gesellschaftliche System nicht beschädigt. Ebenso müssen Privat­initiative und Innovations­kraft zwar geschützt werden, aber das bedeutet nicht, dass hohe, progressive Steuern aus Prinzip des Teufels sind. Die historische Erfahrung – so man sie denn ernst nehmen will – lehrt etwas völlig anderes. [...]"
Was Piketty freilich fehle, so Biswanger, sei eine Machtstrategie, wie er diese Ziele erreichen könne.

 Kuchenbecker:
https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/thomas-pikettys-zweites-buch-der-star-oekonom-der-jedem-franzosen-120-000-euro-schenken-will/25005412.html

Beck Verlag:
"[...] Der Haupttreiber der Ungleichheit – dass Gewinne aus Kapital höher sind als die Wachstumsraten – droht heute vielmehr extreme Formen von Ungleichheit hervorzubringen, die den sozialen Frieden gefährden und die Werte der Demokratie unterminieren.[...]"

https://www.youtube.com/watch?v=fE3Nyckzojg

Zielcke SZ 10.3.20

SWR2

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