Sonntag, 17. November 2019

Rüdiger Altmann: Leitbilder deutscher Außenpolitik 1962

Adenauers diplomatische Faustregeln – ein Ersatz für politisches Denken und Handeln
Das berühmte Bündnissystem Bismarcks, das so wesentlich dazu beitrug, Europa einen vierzigjährigen Frieden zu sichern, ist erst nach seinem Weggang völlig verstanden und allgemein bekanntgemacht worden. Adenauer hingegen ist es bereits auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn gelungen, den außenpolitischen Horizont seiner Ära mit solchem Erfolg auf die Leitbilder seiner Diplomatie zu reduzieren, daß sich in ihnen das Wesen der Bundesrepublik selbst, ihre raison d’être, auszudrücken schien. Zwar haben die Sozialdemokraten und einige kleinere Gruppen heftig dagegen opponiert – noch 1959 legte die SPD ihren "Deutschlandplan" vor – aber diese Opposition hat schließlich die außenpolitische Autorität Adenauers erhöht, statt sie in Frage zu stellen.
Seine Leitbilder wurden jetzt gewissermaßen ex cathedra verkündet, mit einer Selbstverständlichkeit, als handele es sich um Lehrsätze des Bürgerlichen Rechts. Und während die Gegner seiner Politik sich in komplizierten Plänen, skrupulösen Hoffnungen und Spekulationen erschöpften, waren die Grundsätze des Kanzlers klar und einfach. Es waren nicht einmal viele, fast ein Zehn-Finger-System, das sich auch einfacher denkende Abgeordnete seiner Partei zutrauten, mit einiger Sicherheit zu beherrschen.
Der östliche Horizont sah so aus: Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit, Viermächte-Verantwortung für Deutschland, Hallstein-Doktrin, keine mitteleuropäische Politik.
Der westliche Horizont: europäische Integration, deutsch-französische Freundschaft, atlantische Verteidigungsgemeinschaft, deutsch-amerikanische Freundschaft.

Tatsächlich jedoch war die Lage der deutschen Außenpolitik auch auf diesem Standard des Jahres 1957 wesentlich schwieriger und hintergründiger als zur Zeit Bismarcks. Adenauer selbst hatte das Gespür dafür wohl nie verloren. Er sah in seinen Leitbildern auch weniger ein Ergebnis angestrengten Denkens als Faustregeln für das Handeln der Bundesrepublik im Rahmen der Möglichkeiten, die sich nach und nach ergeben hatten. Sie waren zugleich für den innerpolitischen Hausgebrauch gedacht. Aber der Hausgebrauch wurde immer undifferenzierter. Er verwischte in den Augen seiner Partei und eines guten Teils der öffentlichen Meinung den großen und gefährlichen Hintergrund unserer auswärtigen Politik. Um so beruhigender, Sicherheit spiegelnd traten die Leitbilder hervor. Sie wurden zum – leider muß man sagen: willkommenen – Ersatz für außenpolitisches Denken. [...]
https://www.zeit.de/1962/44/leitbilder-deutscher-aussenpolitik

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