Dienstag, 9. August 2016

Schulterschluss zwischen Ankara und Moskau? - Will Erdoğan die Türkei einen? (euro|topics)

Schulterschluss zwischen Ankara und Moskau?

Erdoğan besucht Putin am heutigen Dienstag in Sankt Petersburg, um eine
monatelange politische Krise 
beizulegen. "Die Gespräche mit meinem Freund Wladimir werden eine neue
Seite in unseren Beziehungen aufschlagen," sagte der türkische Präsident
vorab. Doch eine neue Achse Moskau-Ankara wird es nicht geben, meinen
einige Kommentatoren. Für andere hat die EU die Türkei in die Arme des
russischen Präsidenten getrieben. (euro|topics)


Handelsblatt (DE) 
EU ist schuld an Abnabelung der Türkei

Die EU hat den Fehler gemacht, Erdoğan nach dem Putschversuch diplomatisch
nicht beizustehen, und ihn somit in die Arme 
Putins getrieben, meint das Handelsblatt:

„Die Türkei droht dem Westen komplett zu entgleiten. Das Treffen zwischen
Erdoğan und Putin ist der erste Schritt dieser Entwicklung. Die beiden
werden besiegeln, was ihre Minister bei Arbeitstreffen in den vergangenen
Tagen bereits ausgehandelt haben: eine Partnerschaft auf politischer und
wirtschaftlicher Ebene. Um Erdoğans Politik wird es heute sicher
 nicht gehen. Die EU wiederum macht genau diesen Fehler: Sie sieht den Putschversuch primär im Licht des Flüchtlingsabkommens, eineseventuellen EU-Beitritts und der beobachtbaren Demokratiedefizite am Bosporus. ... Aber statt Ankara wie vor einem halben Jahrhundert mit dem Nato-Beitritt an den Westen zu binden, treiben neben Erdoğan selbst auch EU-Politiker mit ihrer diplomatischen Abstinenz in diesen Tagen die schrittweise Abnabelung der Türkei von Europa voran. Putin freut sich.“

 DE VOLKSKRANT (NL) 
Ankara kann gar nicht ohne EU und Nato 
Dass sich die Türkei von der EU und der Nato ab- und Russland zuwendet, hält De Volkskrant hingegen für unrealistisch: 
 „Abgesehen von prosaischen Dingen wie einer Gaspipeline und einem Atomkraftwerk hat der Staatsbesuch für den türkischen Führer vor allem taktische Bedeutung. Er will zeigen, dass er Amerika und Europa nicht braucht. ... Erdoğans Problem: Jeder weiß, dass das nicht stimmt. Das wissen die Amerikaner, die Russen und auch die Türken selbst. Sie kennen ihre Wirtschaftsdaten, fast die Hälfte ihres Handels treiben sie mit Europa, drei Viertel der für die Türkei so notwendigen ausländischen Investitionen kommen aus europäischen Staaten. Sie wissen, dass ihre Sicherheit am Ende von der Nato garantiert wird und nicht vom geopolitischen Zynismus des Kreml. ... Der Fototermin mit dem Händedruck von Putin und Erdoğan wird wohl daher das wichtigste politische Ergebnis dieses Gipfeltreffens bleiben.“

IL SOLE 24 ORE (IT) 
Erdoğan nur ein Bauer im russischen Schachspiel 
Erdoğans Russland-Besuch ist mitnichten ein Zeichen seiner Stärke, meint die Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore: 
 „Die Wahrheit ist, dass sich Erdoğan selbst nach dem Gegenputsch, der ihn zum absoluten Herrscher der Türkei gemacht hat, mit der Tatsache einer völlig unzulänglichen Außenpolitik abfinden muss, in der die Türkei höchstens hoffen kann, eine nützliche Figur im Spiel anderer zu sein. Eine herbe Enttäuschung für denjenigen, der glaubte die Triumphzüge von [den osmanischen Herrschern] Mehmed dem Eroberer oder von Süleyman dem Prächtigen wieder zu beleben. Einziger, doch kein geringer Trost für Erdoğan: Seine Untertanen werden das Desaster kaum 'wertschätzen' können, angesichts des verheerenden Zustands, in dem sich die Pressefreiheit am Bosporus befindet.“ 

Will Erdoğan die Türkei einen? 
 Zu einer Kundgebung gegen den Putschversuch haben sich am Sonntag in Istanbul laut türkischen Medien rund drei Millionen Menschen versammelt. Vor der Rede von Präsident Erdoğan sprachen die Vorsitzenden der kemalistischen und nationalistischen Oppositionsparteien. Nur die kurdennahe HDP war nicht eingeladen worden. Einige Kommentatoren freuen sich über die neue türkische Einheit. Andere trauen dem Frieden nicht.

 MAGYAR HÍRLAP (HU) 
Der Garant für Ordnung 
Warum es wichtig ist, dass Erdoğan die Türkei stabil hält, erläutert der Publizist László Bogár in der Tageszeitung Magyar Hírlap: 
 „Die Türkei befindet sich am neuralgischen Punkt zwischen Europa und Asien, noch dazu trennen das Land nur wenige hundert Kilometer von Afrika. ... Im Nahen Osten, der zweifelsohne der gefährlichste Konfliktherd der vergangenen sechzig Jahre war, nimmt die Türkei neben den USA, Russland, Israel und Saudi Arabien eine strategische Rolle ein. Die Türkei hat also die schier unlösbare Aufgabe, in diesem hochintensiven geopolitischen Kraftfeld das Gleichgewicht zu halten, wobei massive Spannungen mit den Kurden im Inneren des Landes noch hinzukommen. ... Trotz der jüngsten demokratiepolitischen Verwerfungen Erdoğans ist sein autoritärer Kurs wohl dennoch der beste Garant dafür, das empfindliche Gleichgewicht in der Türkei zu halten und für Ordnung zu sorgen.“

 CUMHURIYET (TR) 
Von AKP ist keine Demokratie zu erwarten 
Am Sonntag hat die AKP-Regierung zwar gemeinsam mit Oppositionsparteien für Demokratie und Einheit demonstriert, doch diesem Schauspiel kann man nicht trauen, meint die kemalistische Cumhuriyet: 
 „Ein Konsens per Diktat, mit der Verurteilung des Putsches als kleinstem gemeinsamen Nenner, ist Unsinn. Kommen wir zur Demokratie. Es ist ein Begriff, der vom Erdoğan-Regime sinnentleert wurde. ... Füllen wir also das Innere der Demokratie mit Bedeutung. Als erstes Laizismus. ... Ohne ihn geht es nicht. Eine freie Presse. ... Eine unabhängige, unparteiliche, professionelle Justiz. Das Recht auf eine faire Anklage. Rechtsstaat. Menschenrechte. Persönliche Rechte und Freiheiten. ... Der einzige Konsens, auf den man sich verständigen muss, ist wirkliche Demokratie. Doch mit dem derzeitigen Regime ist ein Konsens auf dieser Grundlage unmöglich. Ihr glaubt vielleicht, dass die AKP einen Schritt zurücktritt, mit euch zusammenarbeitet und einen Kompromiss schließt. Aber das wird nicht geschehen, das liegt nicht in ihrer Natur.“

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