Montag, 9. September 2024

Ingo Schulze zum Abschneiden der AfD in den Landtagswahlen Thüringen und Sachsen

 Interview des "Der Freitag" mit Ingo Schulze

Frage des "Freitag"Sie sprechen häufig an, dass Ost und West einander nicht auf Augenhöhe begegnen.
Schulze: Mein Hauptwohnsitz ist seit über 30 Jahren nicht mehr in einem östlichen Bundesland, aber ich könnte ihn beinahe täglich Äußerungen aufzählen, die von Freunden und Kollegen bis zur Regierungsmitgliedern reichen, in denen – meist in guter Absicht oder unbewusst – ein Blick auf den Osten herab praktiziert wird. Auch in der Wahlberichterstattung. Vielen ist das Herabblicken gar nicht bewusst oder steht der eigenen Intention sogar entgegen. Es läuft auf die bekannte Formel heraus, die Westdeutschen sind die Deutschen, die Ostdeutschen die Ostdeutschen und die mit Migrationshintergrund, die mit Migrationshintergrund.
Frage des "Freitag": Die Soziologin Naika Foroutan*, verglich das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen einmal mit dem zwischen Deutschen mit und ohne Migrationshintergrund.
Schulze: Ich halte es für eine interessante These, dass es Überschneidungen gibt, mit den Erfahrungen. Man ist "dazu gekommen". Was man auf jeden Fall feststellen kann: Innerhalb des deutsch-deutschen Verhältnisses  wird das Westdeutsche immer noch zum Standard erklärt. Hier läge in meinen Augen die Aufgabe des Westens, ein Bewusstsein für die eigene, historische Bedingtheit zu finden. Wenn Deutsche ins Ausland fahren, gibt es in aller Regel ein Bewusstsein des eigenen Selbst; in Bezug auf den Osten Deutschlands ist der Westen der Maßstab, man könnte sogar sagen, dass Westdeutschland im Moment des Beitritts viel, von der kritischen Beschäftigung mit seiner eigenen Geschichte eingebüßt hat, weil er nun vor allem damit beschäftigt war, den Osten kritisch aufzuarbeiten. 

Frage des "Freitag": "Die Enttäuschung durch Kohls CDU scheint bei vielen heutigen AfD-Wählern eine große Rolle zu spielen, wie sehen Sie das?

Ingo Schulze: Mein Eindruck ist, dass viele AfD-Wähler, denen ähneln, die damals den schnellen Beitritt wollten. Es sind ja viele junge Leute hinzugekommen, deshalb ist das nur ein Aspekt, aber vom Ambiente, von der ganzen Atmosphäre her ist es die Stimmung der damaligen "Wir sind ein Volk!"-Demos. Und dann merken sie: Das, was sie gewollt haben, ist so nicht aufgegangen. Insofern ist das vielleicht eine verzögerte Wut, in aller Regel ohne Selbstkritik. Ich hatte diese Wut schon 1990, diese Wut und meine Enttäuschung betrafen allerdings Ost und West gleichermaßen. "
(Der Freitag, 5.9.24)

*sieh auch: Heymat

Ich persönlich kann dem nur zustimmen und kann hinzufügen, dass informierte Bekannte aus den noch nach 35 Jahren "neuen" Bundesländern aufgrund ihrer Erfahrungen von allen Parteien nur das Bündnis SW für wählbar halten, weil sie mit Neonazis absolut nichts zu tun haben wollen. 
Mein hauptsächlicher Gewährsmann erhielt, nachdem er einen bundesdeutschen Kollegen in die Leitung 'seines' Kraftwerks eingearbeitet hatte (beider Gehalt über 5000.- DM), eine Arbeitslosenunterstützung von unter 6 DM monatlich (!), denn er hatte in Unkenntnis der westdeutschen Regelungen eine Zeit lang freiberuflich gearbeitet, um dem Staat nicht auf der Tasche zu liegen.
Ingo Schulze hat freilich eine weit größere Kompetenz in der Beurteilung der damaligen und jetzigen Stimmung in der damaligen DDR und im heutigen östlichen Bundesländern.


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