Freitag, 24. Mai 2024

Stuttgart 21 ein Skandal ohne Beispiel

"Offene Briefe, offene Fragen. Gegner des Bahnprojekts verlangen vom DB-Konzern und Eisenbahn-Bundesamt, Zweifel am S21-Brandschutzkonzept auszuräumen. Die Adressaten antworten einfach nicht. Das erhärtet nur den Verdacht: Man hat etwas zu verheimlichen – und viel zu verlieren. Der Verlust an Glaubwürdigkeit ist dabei wohl das nichtigste Problem. Von Ralf Wurzbacher.

Skandalisieren tut manchmal not, mithin lässt sich damit Unheil abwenden. Stuttgart 21 ist ein Skandal, durch und durch. Von der Anbahnung über die Projektierung, die politische Durchsetzung, die Finanzierung bis hin zur baulichen Realisierung: ein riesengroßer Eklat, der indes vom Mainstream zu einer lästigen Betriebsstörung verniedlicht wird. „Nun ja, läuft nicht alles bestens, aber haut schon irgendwie hin.“ Dabei wird in der hiesigen Medienlandschaft ein Aspekt des zig Milliarden Euro verschlingenden Chaosprojekts praktisch gar nicht verhandelt: Sobald einmal in Betrieb, droht es für Hunderte, mithin Tausende Menschen zur Todesfalle zu werden.

„S21 hat das Potenzial, Europas größtes Krematorium zu werden“, hatte schon vor sechs Jahren Hans-Joachim Keim nach Durchsicht des 33-seitigen Brandschutzkonzepts gewarnt. Der Ingenieur war Gutachter des Gletscherbahnunglücks im österreichischen Kaprun, bei dem im Jahr 2000 infolge eines Feuers 155 Menschen durch Rauchvergiftung starben. Aus Sorge, bei Stuttgart 21 könnte sich Ähnliches oder Schlimmeres ereignen, beklagte der Experte ein „Staatsverbrechen“ und weiter: „Es ist Wahnsinn, was die da machen.“

Schluss mit Naturgesetzen

„Die da“ sind die Deutsche Bahn (DB) und ihre Projektpartner, also Baden-Württemberg, die Stadt, die Region und der Flughafen Stuttgart. Die Kritik an ihrem Treiben ist in den Jahren nicht verstummt, sie wurde sogar immer lauter, weil sich mit den Baufortschritten immer mehr technische Unwuchten und Gefahrenquellen abzeichneten. Und dann gibt es da noch diese Planänderung: Lange Zeit hatte die Bahn mit Zügen einer maximalen Auslastung von 1.757 Passagieren kalkuliert, neuerdings jedoch perspektivisch mit solchen, die bis zu 3.681 Menschen fassen und durch die diversen zum künftigen Stuttgarter Tiefbahnhof führenden Tunnel rollen sollen. Aber trotz verdoppelter Fahrgastzahl ist das Brandschutzkonzept immer noch das alte.

Das muss man nicht verstehen, und die Macher geben sich auch gar nicht die Mühe, es zu erklären. Stattdessen ließ unlängst ein DB-Sprecher verlauten, das S21-Sicherheitspaket sei „von der Art der eingesetzten Züge unabhängig“, was so viel bedeutet wie: Ob nun zehn Fahrgäste oder 3.000 unterwegs sind, die Chance jedes Einzelnen, sich im Unglücksfall in Sicherheit zu bringen, ist in beiden Fällen gleich groß. Realitätsverweigerung ist eine der stärksten Konstanten bei S21. Jetzt kommen sogar die Naturgesetze unter die Räder.

Mauern und Aussitzen

Gutachter Keim hatte den Verantwortlichen seinerzeit vorgehalten, „kein Gefühl für Paniksituationen“ zu haben, „sie können sich nicht vorstellen, wie man unter Stress und Angst reagiert“. Die Fluchtwege bei S21 sind stellenweise 90 Zentimeter breit, üblich sind zwei Meter und mehr. Sie liegen auch nicht auf der Höhe des Ausstiegs, sondern einen Meter tiefer, und die Rettungsstollen zur benachbarten Tunnelröhre befinden sich im Abstand von 500 Metern. Wie sollten Menschen unter diesen Bedingungen „mit einem Rollstuhl durchkommen“, fragte sich Keim, „es wird dort Staus geben“. Spätestens bei den viel zu eng konzipierten Fluchttreppen würden sich die Flüchtenden „gegenseitig zerdrücken – wie bei der Love-Parade“. Und Keim äußerte diese Bedenken schon, als die Bahn noch mit der Hälfte an Insassen rechnete. [...]"

https://www.nachdenkseiten.de/?p=115624 24. Mai 2024

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