Dienstag, 29. August 2023

euro|topics: Frankreich: Verbot islamischer Abayas an Schulen?

29. August 2023 

Kopftücher sind an Frankreichs Schulen bereits verboten, jetzt will Frankreichs neuer Bildungsminister Gabriel Attal auch Abayas verbieten. Das Tragen der knöchellangen Übergewänder sei eine "religiöse Geste", so Attal mit Bezug auf Frankreichs strikten Laizismus. Die Presse diskutiert das geplante Verbot kontrovers. 

 Symbol gescheiterter Integration 

Le Figaro drückt Attal die Daumen für sein Vorhaben: 

 „Der vom Bildungsminister begonnene Kampf wird lang und schwierig sein. Denn die Abaya ist weit mehr als nur die Abaya. Dieses Kleidungsstück, das kulturelle Unterschiede betont, ist die Folge einer ungeregelten Einwanderung und einer gescheiterten Integration. Sie ist das Symbol einer Schule, die nicht mehr in der Lage ist, den Reichtum der Intelligenz, die Freuden der Freiheit und den Stolz auf ein gemeinsames Erbe zu vermitteln. … Der junge Minister hat gezeigt, dass er Talent und Mumm hat. Nun muss er Durchhaltevermögen beweisen.“ Vincent Tremolet de Villers 

 Bitte kein übereiltes Vorgehen Zuerst muss der Rechtsrahmen präzisiert werden, fordert der Essayist Jad Zahab in Libération:

„Während die Gesetze von 1905 und 2004 sichtbare religiöse Zeichen relativ klar verbieten, sind sie sehr viel unklarer, was kulturelle Zeichen betrifft, die für religiösen Bekehrungseifer missbraucht werden könnten. ... Frankreich steht nicht im Krieg gegen eine Religion, Gläubige oder eine Kultur. Trotzdem müssen diejenigen gestoppt werden, die Kleidung oder Zeichen jeglicher Art missbrauchen, um religiösen Druck auszuüben. … Die Gesetze müssen so ergänzt werden, dass sie die Umdeutung von kulturellen Zeichen für religiöse Zwecke angemessen berücksichtigen. … Der Grundsatz der Laizität steht nicht im Widerspruch zur Gewissensfreiheit oder zum Recht der Frauen, sich zu kleiden, wie sie möchten. Er ist nicht das Problem, sondern die Lösung.“ Jad Zahab


Gefahr der Stigmatisierung

Das hinter dem Verbot liegende Motiv mag zwar für einen laizistischen Staat verständlich sein, birgt aber auch Gefahren, mahnt der Frankreich-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Oliver Meiler:

 „Die Verfügung mischt ... eine polemische Note in diese Rentrée scolaire, den Schulanfang, und das wohl ganz gezielt: Die zentristische Regierungsmehrheit und ihr Präsident Emmanuel Macron wollen mit aller Macht entschlossen wirken, auch ein bisschen autoritär, um so die wachsende extreme Rechte auf einem leicht entflammbaren Feld zu kontern. Aber natürlich riskiert die Regierung dabei, ausgerechnet mal wieder und recht pauschal auf jene Bevölkerungsgruppe zu zeigen, die sich von allen bereits am meisten stigmatisiert fühlt. Nicht nur wegen der Kleider." - Oliver Meiler

Besser die Durchmischung an Schulen fördern

Das Verbot könnte den Graben zwischen Mehrheitsgesellschaft und Muslimen weiter vertiefen, warnt die Neue Zürcher Zeitung:

 „Man kann verstehen, dass die Regierung vermeiden will, dass die Schule zum Austragungsort religiöser Konflikte wird. Doch ein Verbot islamischer Symbole heizt den Konflikt um die Stellung des Islam und der Muslime in Frankreich eher an. Um ihre Integration zu fördern, ist die Schule von zentraler Bedeutung. Eine bessere soziale Durchmischung der Schulen wäre aber wichtiger als ein Verbot der Abaya. Im schlimmsten Fall führt dieses dazu, dass sich die Musliminnen weiter absondern und in private religiöse Schulen wechseln.“ 

Donnerstag, 24. August 2023

euro|topics: Hat Putin Prigoschin auf dem Gewissen?

 

Wagner-Chef Jewgenij Prigoschin und einige seiner Mitstreiter sind höchstwahrscheinlich bei einem Flugzeugabsturz getötet worden. Russische Behörden meldeten den Absturz am Mittwochabend, bestätigten den Tod Prigoschins jedoch nicht offiziell. An den internationalen Reaktionen lässt sich ablesen, dass die Nachricht kaum jemanden überrascht - und dass auch in Europas Presse viele den Vorfall nicht für Zufall halten.

ALEXEJ ROSCHTSCHIN (RU)

Nichts als Luftfahrt-Terrorismus

Stalin hat sich mehr Mühe gegeben, Staatlichkeit zu inszenieren, konstatiert Soziologe Alexej Roschtschin auf Facebook:

„Alle 'Anstifter' in ein Flugzeug zu locken und es zu sprengen, das ist brutal. Und, mit Verlaub, Luftfahrt-Terrorismus. Was hat davon abgehalten, so zu tun, als ob wir in einem Staat leben würden - also sie alle einfach zu verhaften und wegen 'Verrats' vor Gericht zu stellen, zumal Putin selbst genau das vor fast zwei Monaten versprochen hat? Weshalb solche Show-Effekte? Die Leute fragen zu Recht: Was haben sich denn die Piloten des Prigoschin-Jets zuschulden kommen lassen? ... Selbst Stalin scheute es nicht, 'Prozesse' zu inszenieren, damit alles aussieht, als sei es 'rechtens'.“

Alexei Roschtschin
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LA STAMPA (IT)

Putins Macht basiert auf Ja-Sagern

Prigoschin hat seine Grenzen verkannt, erörtert La Stampa:

„Mächtig war er, nur hielt er sich für mächtig genug, um das Machtsystem von Wladimir Putin zu bedrohen - wohl darauf bedacht, akrobatisch zwischen dem Präsidenten und dem Hofstaat der ihn umgebenden Generäle zu unterscheiden. ... Prigoschins Fehler bestand vielleicht darin, zu glauben, dass Putin die Botschaft aufgreifen, den (von Prigoschin) verhassten Verteidigungsminister Schoigu entlassen und die Welle des Aufstands reiten würde, der nationalistischer sein sollte als der Putinsche Staat selbst. Doch gerade auf diesen unterwürfigen Staat und seine törichten Höflinge hat Wladimir Putin seine Macht aufgebaut. ... In diesem System ist kein Platz für einen verrückten Ausscherer wie Jewgeni Prigoschin.“

Stefano Stefanini
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RZECZPOSPOLITA (PL)

Kein Gewinn für die Gesamtsituation

Rzeczpospolita schreibt:

„Hätte der Tod des Wagner-Anführers, falls er sich bestätigen sollte, Auswirkungen auf die Fragen, mit denen wir Prigoschin in Verbindung bringen? Auf den großen Krieg im Osten, auf russische Operationen in Afrika oder Provokationen an der Grenze von Belarus zu westlichen Ländern? Das ist zweifelhaft. Niemand ist unersetzlich, auch nicht unter Banditen. Russland wird nichts von dem aufgeben, was mit Hilfe von Prigoschin und seinen Söldnern erreicht wurde. Schlimmer noch: Die Liquidierung des Chefs der Wagner-Gruppe wäre ein Signal an die Russen, dass man dem Kreml nicht nur gelegentlich von Nutzen sein darf. Man muss es immer sein.“

Jerzy Haszczyński
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THE DAILY TELEGRAPH (GB)

Wagner ist noch nicht am Ende

Prigoschins Tod würde Putins interne Kritiker nicht lähmen, glaubt The Daily Telegraph:

„Der Absturz bedeutet nicht das Ende der Auseinandersetzungen von Militärs innerhalb von Russland. Es gibt weiterhin eine große Zahl ausgebildeter und aktiver Wagner-Krieger, die durch Gefechte in der Ukraine oder Plünderungen in Afrika kampferprobt und mit der Führung ihres Landes äußerst unzufrieden sind. Tatsächlich fanden einige junge Russen Prigoschins Botschaft überzeugend. Aus ihrer Sicht hat Putin einen Krieg begonnen, der nicht angemessen geführt wurde. Dies wird zu einem größeren Problem, je länger sich die 'militärische Spezialoperation' hinzieht.“

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Über Putins Widersacher Jewgeni Prigoschin

 "Jewgeni Prigoschin ist mutmaßlich bei einem Flugabsturz ums Leben gekommen. Er war der mächtigste Gegner Wladimir Putins im eigenen Land. Das nährt Spekulationen. [...]"

Die ZEIT 24.8.23

Mittwoch, 23. August 2023

euro|topics: Brics und Chinas Immobilienkrise

 

Brics-Gipfel: Entsteht ein Gegengewicht zum Westen?

Bis Donnerstag treffen sich die Brics-Staaten in Johannesburg. Ziel sei die Suche nach veränderten globalen Machtstrukturen, erklärte die südafrikanische Außenministerin Naledi Pandor. Neben den Mitgliedern Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika wollen mehr als 30 Länder aus Afrika, Lateinamerika und Asien teilnehmen und teilweise auch beitreten. Wohin das führen kann, analysiert Europas Presse.

ADEVĂRUL (RO)

Die Karten werden neu gemischt

Das in der Nachkriegszeit entstandene Machtgefüge entspricht nicht mehr der aktuellen Lage, beobachtet Adevărul:

„Die Staaten des globalen Südens haben eine Reihe von Führungspersönlichkeiten, die entdeckt haben, dass die geopolitische Situation (die einmal mehr vom Kampf um strategische Ressourcen beherrscht wird) nicht mehr dieselbe ist wie 1945, als die Grundlage der derzeitigen internationalen Ordnung entstand. Damals besaßen die USA 45 Prozent des globalen BIP und fünf europäische Staaten besaßen damals noch den größten Teil Afrikas und einen bedeutenden Teil Asiens.“

Cristian Unteanu
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CORRIERE DELLA SERA (IT)

Expansion wäre heikel

Eine erweiterte Brics-Gruppe könnte zum Problem werden, mahnt Corriere della Sera:

„Ein Punkt auf der Tagesordnung mit unmittelbaren Folgen ist die vorgeschlagene Erweiterung des 2009 gegründeten Blocks. ... Mehr als zwanzig Länder sollen die Aufnahme beantragt haben, darunter Saudi-Arabien. Das ist heikel: Jeder Schritt in Richtung einer Aufnahme des zweitgrößten Ölproduzenten der Welt in einen Wirtschaftsblock mit Russland und China würde in einem extrem angespannten geopolitischen Klima zweifelsohne die Aufmerksamkeit der USA und ihrer Verbündeten auf sich ziehen. Es sollte zudem bedacht werden, dass auch Kuba und der Iran an die Tür der Brics klopfen und (derzeit) nur Indien ihren Beitritt verhindert.“

Paolo Salom
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THE TIMES (GB)

Von Einigkeit weit entfernt

Dass viele weitere Staaten dem Bund beitreten wollen, ist nicht seiner politischen Schlagkraft zu verdanken, analysiert The Times:

„Eine weitgehend dysfunktionale Organisation wird nicht besser oder einflussreicher, nur weil sie mehr Mitglieder gewinnt. Dies Brics-Staaten sind im Kern gespalten. Auf der einen Seite stehen drei mehr oder weniger funktionierende Demokratien – Südafrika, Indien und Brasilien -, die eine starke Beziehung zu westlichen Gebern aufrechterhalten wollen. Auf der anderen Seite die beiden verbündeten Autokratien China und Russland. Alle sind sich einig, dass sie die globale Dominanz der USA reduzieren wollen. Doch Indien zum Beispiel sieht sich zunehmend als Rivale Chinas und steht einer Erweiterung der Brics skeptisch gegenüber.“

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RADIO KOMMERSANT FM (RU)

Ohne gemeinsames Fundament

Auch Radio Kommersant FM sieht vor allem trennende Faktoren:

„Unter den Brics-Staaten gibt es gewisse Widersprüche, unter anderem in zwei Schlüsselbereichen - der Erweiterung der Gruppe und der Einführung einer gemeinsamen Währung. Im ersten Fall ist Brasilien dagegen, im zweiten Fall Indien. Es klappt vorerst nicht, das Monopol des Dollars zu beenden (was kein einfacher Prozess ist) wie auch eine Alternative zur G7 zu schaffen. ... Das Hauptproblem ist jedoch: Es sollte eine verbindende Grundidee geben - ein Fundament. Abneigung gegen Amerika und die westliche Welt reicht für eine funktionierende Integration nicht aus.“

Dmitrij Drise
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RZECZPOSPOLITA (PL)

Putin doppelt gedemütigt

Für Rzeczpospolita zählt der russische Machthaber schon jetzt zu den Verlierern:

„Wladimir Putin muss sich mit einer Online-Teilnahme begnügen: Aus Angst vor einer Verhaftung auf Antrag des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine wird er nicht nach Südafrika reisen. Zu dieser Demütigung kommt für den russischen Staatschef noch eine weitere hinzu: Kurz vor dem Treffen in Johannesburg stürzte die Sonde Luna 25 ab, die beweisen sollte, dass Russland bei der Eroberung des Weltraums an vorderster Front steht.“

Jerzy Haszczyński
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Brics-Gipfel: Entsteht ein Gegengewicht zum Westen?
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Was, wenn Chinas Immobilienriesen kollabieren?

Der hoch verschuldete chinesische Immobilienkonzern Evergrande kann seine Verbindlichkeiten in den USA nicht mehr bedienen und beantragte laut Medienberichten am Donnerstag in Manhattan Gläubigerschutz. In China selbst ist mit Country Garden einem weiteren großen Baukonzern das Geld ausgegangen. Steht Chinas Immobiliengeschäft nun vor dem Kollaps? Und droht gar eine Finanzkrise? Eher nicht, meinen Kommentatoren.

EL PAÍS (ES)

Tickende Zeitbombe

El País vergleicht die Situation mit Spanien vor dessen großer Baukrise ab 2008:

„Das Baugewerbe und die mit ihm verwandten Aktivitäten machen fast 30 Prozent des BIP aus. Dieser Wert ist höher als der in Spanien unmittelbar vor dem Platzen der Blase. ... Die jüngste Ankündigung von Evergrande, Chinas zweitgrößtem Bauträger, in den Vereinigten Staaten Konkurs anzumelden, verstärkt das Misstrauen nur noch. ... Joe Biden nannte den Zustand eine 'tickende Zeitbombe'. ... Immer mehr Investoren haben beschlossen, ihre Asiengeschäfte zu diversifizieren, um eine Risikokonzentration zu vermeiden. ... Die Tatsache, dass die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt so großen Risiken ausgesetzt ist, bedroht die Weltwirtschaft.“

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LES ECHOS (FR)

Kein Lehman-Brothers-Moment

Die Krise wird sich auf die chinesische Wirtschaft beschränken, erwartet Les Echos:

„Einige Marktteilnehmer gehen davon aus, dass China seinen 'Lehman-Moment' erlebt. … Doch dieses Horrorszenario ist nicht schlüssig. Auch wenn die Zahlen lückenhaft und noch nicht genau bekannt sind, ist man sich recht sicher, dass die Belastung des globalen Finanzsystems durch Anleihen bei chinesischen Bauunternehmern relativ gering ist. Weitaus besorgniserregender sind hingegen die Auswirkungen dieser Krise auf die chinesische Wirtschaft selbst. Diese hat bereits seit der Pandemie Mühe, wieder zu wachsen, und der aktuelle Immobilienschock beraubt Peking eines seiner wichtigsten Instrumente zur Ankurbelung der Wirtschaft.“

Daniel Fortin
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PORTFOLIO (HU)

Das Gebälk knirscht, aber es hält

Analysten sind hoffnungsvoll, dass China die Krise ein weiteres Mal eindämmen kann, meint auch das Wirtschaftsportal Portfolio:

„Globale Aufsichtsbehörden verfolgen das Chaos auf dem chinesischen Immobilienmarkt aufmerksam, denn sie befürchten, dass die Märkte anderer Länder infiziert werden könnten. ... Die Frage ist nun, ob der chinesische Staat nach der Eindämmung der Evergrande-Krise in den vergangenen zwei Jahren erneut in der Lage sein wird, eine Immobilienkrise abzufedern. Die Analysten glauben einstweilen daran, dass Peking auch diese größere und umfassendere Krise bewältigen könnte, aber inzwischen haben sie alle begonnen, ihre BIP-Wachstumserwartungen zu senken.“

Dániel Szabó
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HELSINGIN SANOMAT (FI)

Für China ist die Blase das geringere Übel

Peking will ein Desaster auf jeden Fall verhindern, glaubt Helsingin Sanomat:

„Das Bevölkerungswachstum in China ist zum Stillstand gekommen, und die Geburtenrate stark gesunken. Die Bevölkerung altert. ... So ähnlich begann auch Japans lange Wirtschaftsflaute: eine Periode der Deflation, der Verschuldung, der Überalterung und des langsamen Wirtschaftswachstums. Wenn China aus dieser Spirale ausbrechen will, muss es seine Märkte öffnen, die Grenzen zwischen staatlichen und wirtschaftlichen Interessen klar definieren und mit dem Westen zusammenarbeiten. … Doch Chinas Politiker sehen auf dem Weg dorthin große Risiken. Es ist daher zu erwarten, dass China seine mit Schulden finanzierte Immobilienblase Jahr für Jahr und Jahrzehnt für Jahrzehnt mit Krediten stützen wird.“

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