Kissinger im Interview: Putin vor Gericht - lieber nicht
ZEIT Nr.22, 25.5.2023
ZEIT: [...] Sie kennen Putin, haben ihn oft getroffen. Was ist er für ein Mensch?
Kissinger: Nun, ich kenne Putin auf andere Weise als, sagen wir: Gerhard Schröder.
[...] meine Beziehungen zu Putin waren rein strategisch und konzeptionell. Anfangs
ging es in unseren Gesprächen um die Lage in Jugoslawien, um die Nato-Intervention
im Kosovo 1999, und ein Aspekt dabei war immer die Bewahrung der Würde
Russlands. [...]
ZEIT: Was war aus Ihrer Sicht Putins strategisches Ziel bei seinem Angriff
auf die Ukraine?
Kissinger: Ich glaube, er hat sich übernommen. Er hat, denke ich, den
Eindruck gewonnen, er werde nicht ernst genommen. Die Ukraine ist für
ihn ein Symbol für Russlands Erniedrigung. Als ich ihn vor Jahren das
erste Mal traf, damals war er noch stellvertretender Bürgermeister von
St. Petersburg, sagte er mir, der Zerfall der Sowjetunion sei eine der großen
Tragödien der Weltgeschichte. –
Ich bin übrigens nicht der Meinung, dass alle Schuld bei Putin liegt. Der
Krieg selbst und die Kriegführung sind höchst rücksichtslos, der Angriff muss
zurückgeschlagen werden, und ich befürworte den Widerstand der Ukrainer
und des Westens. Aber ich habe schon 2014 in einem Aufsatz ernste Zweifel
an dem Vorhaben geäußert, die Ukraine einzuladen, der Nato beizutreten. Damit
begann eine Reihe von Ereignissen, die in dem Krieg kulminiert sind. Das
rechtfertigt den Krieg nicht, aber ich war damals der Auffassung und bin es
heute noch, dass es nicht weise war, die Aufnahme aller Länder des ehemaligen
Ostblocks in die Nato mit der Einladung an die Ukraine zu verbinden, ebenfalls
der Nato beizutreten. [...] Ich habe damals in vielen Artikeln geschrieben,
die Ukraine solle nicht der Vorposten des Westens oder Moskaus sein,
sondern eine Brücke zwischen beiden Seiten. Das wäre ein besseres
strategisches Ziel gewesen.
ZEIT: Die Ukraine war bis zum russischen Angriff 2014 neutral. Und heute:
Sollte die Ukraine in die Nato aufgenommen werden?
Kissinger: Heute bin ich absolut dafür, die Ukraine nach dem Ende des
Krieges in die Nato aufzunehmen. Jetzt, da es keine neutralen Zonen mehr
zwischen der Nato und Russland gibt, ist es besser für den Westen, die
Ukraine in die Nato aufzunehmen. So ist sichergestellt, dass Konflikte,
die nach dem Ende des Krieges neu entstehen könnten oder die sich aus
dem Friedensschluss ergeben, nicht durch einseitige Angriffe Russlands
oder der Ukraine entschieden werden können. [...]
Putin vor Gericht? Besser nicht! [...]
Weil es unmöglich ist, oder sehr viel schwieriger, einen Krieg zu begrenzen,
wenn man den Ausgang des Krieges mit dem persönlichen Schicksal eines
politischen Führers verknüpft. Was Putin tut, ist illegal und falsch, und ich
will sein Handeln nicht rechtfertigen. Aber wir müssen alles dafür tun,
dass eine Ausweitung des Krieges verhindert wird. Und es muss für die Zeit
nach dem Ende des Krieges sichergestellt werden, dass die Feindseligkeiten
nicht unbegrenzt weitergehen.
Das politische Ziel des Westens muss sein, die Beziehungen zwischen Europa
und Russland neu aufzubauen, sobald die militärische Sicherheit der Ukraine
erreicht ist. [...] Im Moment sieht es allerdings so aus, als unternehme die
Regierung Biden echte Anstrengungen, mit China wieder ins Gespräch zu
kommen, und China scheint sich darauf einzulassen. Ich unterstütze dieses
Bemühen. Natürlich lässt sich noch kaum sagen, ob dieser Versuch bloß
als taktische Pause vor einem Showdown zu verstehen ist oder als
dauerhafter Rahmen. [...] Der Konflikt um Taiwan könnte in einer Weise
eskalieren, die niemand mehr kontrollieren kann. Diese Gefahr besteht.
[...]"