Samstag, 3. Dezember 2022

Piketty: Eine kurze Geschichte der Gleichheit

  https://www.chbeck.de/piketty-kurze-geschichte-gleichheit/product/33757016

https://www.perlentaucher.de/buch/thomas-piketty/eine-kurze-geschichte-der-gleichheit.html


Aus der Leseprobe:

"[...] Sosehr die langfristige Tendenz zur Gleichheit sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert behauptet, sie bleibt doch von begrenzter Tragweite. Auf allen genannten Ebenen (Rechtsstatus, Eigentum, Macht, Einkommen, Geschlecht, Herkunft) bestehen die Ungleichheiten in erheblichem und ungerechtfertigtem Maße fort, zumal sie auf individueller Ebene oft gehäuft auftreten. Eine Tendenz zur Gleichheit zu behaupten, kommt keineswegs dem Aufruf gleich, darüber in Jubel auszubrechen. Im Gegenteil: Eher geht es um den Aufruf, auf der Basis solider historischer Kenntnisse den Kampf fortzusetzen. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie es zu dieser Bewegung hin zu mehr Gleichheit tatsächlich gekommen ist, wenn wir besser verstehen, welche Kämpfe und Mobilisierungen, welche institutionellen Errungenschaften, welche Rechts-, Sozial-, Steuer-, Bildungs- und Wahlsysteme nachhaltig für Gleichheit gesorgt haben, dann lassen sich daraus wertvolle Lehren für die Zukunft ziehen. Leider wird dieser kollektive Lernprozess, in dem wir uns vor Augen führen können, was gerechte Institutionen sind, oft genug durch Geschichtsvergessenheit, aber auch dadurch behindert, dass sich die einzelnen Wissensgebiete gegeneinander abschotten. Um auf dem Weg zur Gleichheit voranzukommen, ist es entscheidend, sich auf die Geschichte zu besinnen und nationale Grenzen ebenso wie Fächergrenzen zu überwinden. Dieses Buch, das ein optimistisches Buch ist und durchaus die Bürger mobilisieren will, versucht als zugleich historische und sozialwissenschaftliche Arbeit, einen Schritt in diese Richtung zu tun. [...]

Das Aufbegehren gegen Ungerechtigkeit und die Suche nach gerechten Institutionen Was sind die wichtigsten Schlussfolgerungen, die sich aus dieser neuen Wirtschafts- und Sozialgeschichte ziehen lassen? Die nächstliegende lautet zweifellos: Ungleichheit ist zunächst und vor allem eine soziale, historische und politische Konstruktion. Es gibt, anders gesagt, auf ein und demselben wirtschaftlichen oder technischen Entwicklungsstand 1 Dort finden sich auch die genauen Belege. Einführung 22 stets mehr als eine Weise der Organisation eines Eigentums- oder Grenzregimes, einer sozialen und politischen Ordnung, eines Steueroder Bildungssystems. Die zugrundeliegenden Entscheidungen sind politischer Natur. Sie sind abhängig von Kräfteverhältnissen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und herrschenden Weltanschauungen, und sie führen zu Ungleichheitsniveaus und -strukturen, die je nach Gesellschaft und Epoche extrem unterschiedlich sind. Alle Wohlstandsbildung in der Geschichte ist Resultat kollektiver Prozesse: Sie hängt von der internationalen Arbeitsteilung, der Nutzung natürlicher Ressourcen des Planeten und der Akkumulation von Kenntnissen seit den Anfängen der Menschheit ab. Menschliche Gesellschaften erfinden unablässig Regeln und Institutionen, um sich zu organisieren, um Reichtum und Macht zu verteilen. Aber stets treffen sie dabei politische und reversible Entscheidungen. Die zweite Lehre lautet, dass es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine langfristige Tendenz zu mehr Gleichheit gibt. Dieser lange Weg zur Gleichheit ist die Konsequenz des Aufbegehrens gegen Ungerechtigkeiten und sozialer Kämpfe, die es möglich gemacht haben, Kräfteverhältnisse zu verändern und Institutionen zu stürzen, über die die von sozialer Ungleichheit profitierenden herrschenden Klassen ihre schützende Hand halten, um sie durch neue, emanzipatorische, für die Mehrheit gerechtere soziale, ökonomische, politische Regeln zu ersetzen. Bei grundlegenden Veränderungen in der Geschichte der Ungleichheitsregime spielen soziale Konflikte und fundamentale politische Krisen eine tragende Rolle. Es sind die Bauernaufstände von 1788/89 und die Ereignisse der Französischen Revolution, die zur Abschaffung der Adelsprivilegien führen. Und nicht das Geflüster hinter vorgehaltener Hand in Pariser Salons, sondern der Sklavenaufstand von Saint-Domingue von 1791 läutet das Ende des atlantischen Sklavenhandels ein. Im 20. Jahrhundert haben soziale und gewerkschaftliche Mobilisierungen eine maßgebliche Rolle bei der Schaffung neuer Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit und beim Abbau von Ungleichheiten gespielt. Die beiden Weltkriege können ihrerseits als Konsequenz sozialer Spannungen und Widersprüche gelten, wie sie mit der unerträglichen Ungleichheit einhergingen, die vor 1914 auf nationaler wie internationaler Ebene herrschte. In den Vereinigten Das Aufbegehren gegen Ungerechtigkeit 23 Staaten war ein mörderischer Bürgerkrieg nötig, um 1865 dem Sklavenhaltersystem ein Ende zu setzen. Und ein Jahrhundert später, 1965, wird es nur durch eine sehr starke afroamerikanische Mobilisierung gelingen, das System der legalen «Rassen»-Diskriminierung abzuschaffen (ohne darum schon den illegalen, aber bis heute ganz realen Diskriminierungen Einhalt zu gebieten). Die Beispiele sind Legion: In den 1950er und 1960er Jahren spielen die Unabhängigkeitskriege eine Schlüsselrolle bei der Überwindung des europäischen Kolonialismus; erst jahrzehntelange Unruhen und Mobilisierungen führen 1994 zum Ende der südafrikanischen Apartheid, und so weiter. Neben Revolutionen, Kriegen und Aufständen sind häufig Wirtschafts- und Finanzkrisen die Schlüsselmomente, in denen sich soziale Konflikte herauskristallisieren und Kräfteverhältnisse neu definiert werden. Die Krise der 1930er Jahre trägt maßgeblich zur anhaltenden Delegitimierung des Wirtschaftsliberalismus und zur Rechtfertigung neuer Formen staatlicher Intervention bei. In jüngerer Vergangenheit haben die Finanzkrise von 2008 und die Krise der weltweiten Pandemie schon begonnen, eine Reihe von Gewissheiten zu erschüttern, die gerade noch unantastbar schienen, etwa über die annehmbare Höhe von Staatsschulden und die Funktion von Zentralbanken. Eine lokalere, aber symptomatische Rolle hat der Aufstand der «Gelbwesten» gespielt, der 2018 in Frankreich die Regierung zwang, ihre besonders inegalitären Pläne zur Erhöhung der Benzinsteuer aufzugeben. Und zu Beginn der 2020er Jahre haben Bewegungen wie Black Lives Matter, #MeToo und Fridays for Future ihre eindrucksvolle, grenz- und generationsübergreifende Mobilisierungskraft im Kampf gegen «Rassen»-, Geschlechter- und Klimaungleichheiten unter Beweis gestellt. In Anbetracht der sozialen und ökologischen Widersprüche des gegenwärtigen Wirtschaftssystems werden Aufstände, Konflikte und Krisen wohl auch in Zukunft eine zentrale Rolle spielen, unter Bedingungen, die sich nicht exakt vorhersagen lassen. Das Ende der Geschichte ist nicht in Sicht. Der Weg zur Gleichheit ist noch lang, vor allem in einer Welt, in der die Ärmsten (und namentlich die Ärmsten der ärmsten Länder) mehr und mehr unter Klima- und Umweltschäden werden leiden müssen, die sie der Lebensweise der Reichsten verdanken. Aber Kämpfe und Kräfteverschiebungen, auch das lehrt die Ge- Einführung 24 schichte, reichen nicht aus. Sie sind eine notwendige Bedingung der Entmachtung inegalitärer Institutionen und herrschender Mächte, aber sie bieten leider keine Gewähr dafür, dass die neuen Institutionen und Mächte, die an ihre Stelle treten, auch wirklich so egalitär und emanzipatorisch sind wie erhofft. Der Grund ist einfach. So leicht es ist, den inegalitären oder repressiven Charakter bestehender Institutionen und Regierungen anzuprangern, so schwierig ist es, sich auf alternative Institutionen zu verständigen, die wirklich mehr soziale, wirtschaftliche und politische Gleichheit schaffen und zugleich individuelle Rechte und das Recht jeder und jedes Einzelnen auf Andersartigkeit respektieren. Die Aufgabe ist nicht unmöglich, im Gegenteil, aber sie erfordert Bereitschaft zur Abwägung, zur Auseinandersetzung mit anderen Standpunkten, zur Dezentralisierung, zum Kompromiss, zum Wagnis. Sie erfordert die Einsicht, dass man aus historischen Verläufen und der Erfahrung anderer lernen kann. Und vor allem erfordert sie die Einsicht, dass nicht im Voraus feststeht und darum debattiert werden muss, wie die gerechten Institutionen denn eigentlich aussehen sollen. Wie wir sehen werden, hat sich der Weg zur Gleichheit seit dem 18. Jahrhundert auf die Entwicklung einer Reihe institutioneller Errungenschaften gestützt, die als solche untersucht werden müssen: Gleichheit vor dem Recht; allgemeines Wahlrecht und parlamentarische Demokratie; kostenlose und obligatorische Schuldbildung; allgemeine Krankenversicherung; progressive Einkommen-, Erbschaft- und Vermögensteuer; Mitbestimmung und Gewerkschaftsrecht; Pressefreiheit; internationales Recht; und so weiter. Keine dieser Einrichtung hat eine ein für alle Mal anerkannte Form angenommen, jede kommt eher einem zerbrechlichen, ungesicherten, vorläufigen, sich ständig neu bestimmenden Kompromiss gleich, der aus spezifischen sozialen Konflikten und Mobilisierungen, aus genommenen oder verpassten Abzweigungen, aus besonderen historischen Momenten hervorgegangen ist. Und jede krankt an vielfältigen Unzulänglichkeiten, jede muss stets wieder infrage gestellt, ergänzt und durch andere ersetzt werden. Formale Rechtsgleichheit, wie wir sie derzeit fast überall haben, schließt massive Diskriminierung aufgrund von Herkunft oder Geschlecht nicht aus; die repräsentative Demokra- Die Kräfteverhältnisse sind nicht alles 25 tie ist nur eine unter den unvollkommenen Formen politischer Teilhabe; die Ungleichheit des Zugangs zu Bildung und Gesundheitsversorgung bleibt immens; progressive Steuer und Umverteilung sind auf nationaler wie internationaler Ebene von Grund auf zu überdenken; die Machtverteilung in Unternehmen steckt noch in den Kinderschuhen; dass die Medien fast ausnahmslos ein paar Oligarchen gehören, kann schwerlich als vollkommenste Form der Pressefreiheit gelten; das internationale Rechtssystem, das auf unkontrolliertem Kapitalverkehr ohne soziale oder klimatische Zielvorgaben beruht, kommt meist einem Neokolonialismus zugunsten der Reichsten gleich; und so weiter. Um bestehende Institutionen zu erschüttern und neu zu definieren, wird es auch künftig Krisen und Kräfteverschiebungen, aber zugleich kollektive Lern-, Aneignungs- und Mobilisierungsprozesse durch neue politischer Programme und institutionelle Ansätze brauchen, die durch unterschiedliche Dispositive der Gewinnung und Verbreitung von Erkenntnissen und Erfahrungen auf den Weg gebracht werden müssen: Parteien und Gewerkschaften, Schulen und Bücher, Bewegungen und Begegnungen, Zeitungen und Medien. Natürlich spielen innerhalb dieses Ganzen die Sozialwissenschaften eine Rolle, die freilich nicht überschätzt werden sollte: Es sind die sozialen Aneignungsprozesse, die am wichtigsten sind, und sie werden auch und vor allem durch kollektive Organisationen möglich, deren Formen ihrerseits neu zu erfinden sind. Die Kräfteverhältnisse sind nicht alles Es sind daher zwei komplementäre Klippen, die es zu umschiffen gilt: Die Rolle der Kämpfe und Kräfteverhältnisse in der Geschichte der Gleichheit darf einerseits nicht vernachlässigt, andererseits nicht verabsolutiert werden, um darüber die Bedeutung der institutionellen und politischen Perspektiven wie der Ideen und Ideologien, die solche Perspektiven eröffnen, zu unterschätzen. Der Widerstand der Eliten ist ein unausweichliches Faktum, in der heutigen Epoche (mit ihren transnational operierenden Milliardären, die reicher als ganze Staaten sind) mindestens so sehr wie zu Zeiten der Französischen Revolution. [...]

Nichts könnte diese beiden Klippen besser veranschaulichen als die Erfahrung des Sowjetkommunismus (1917–1991), ein Großereignis, das sich über das 20. Jahrhundert erstreckt und es in gewisser Weise definiert. Einerseits waren es durchaus Kräfteverschiebungen und erbitterte soziale Kämpfe, die es den bolschewistischen Revolutionären erlaubt hatten, das zaristische Regime durch den ersten «Arbeiterstaat» der Geschichte zu ersetzen, einen Staat, der zunächst beachtliche Fortschritte im Bildungs- und Gesundheitssystem wie im Industriesektor verzeichnen konnte und zudem erheblichen Anteil am Sieg über den Nationalsozialismus hatte. Auch ist keineswegs ausgemacht, dass ohne den Druck der UdSSR und der kommunistischen Internationale die besitzenden Klassen des Westens die Sozialversicherung und die progressive Steuer, die Dekolonisierung und die Bürgerrechte einfach hingenommen hätten. Auf der anderen Seite sind es die Verherrlichung der Kräfteverhältnisse und die unter den Bolschewiki Die Kräfteverhältnisse sind nicht alles 27 herrschende Gewissheit, im Besitz der einen und einzigen Wahrheit über die gerechten Institutionen zu sein, die zu dem allseits bekannten totalitären Desaster geführt haben. [...]

Ich werde versuchen, beide Klippen zu umschiffen: Die Kräfteverhältnisse dürfen weder vernachlässigt noch überbewertet werden. Soziale Kämpfe spielen eine Schlüsselrolle in der Geschichte der Gleichheit, aber die Frage der gerechten Institutionen und der egalitären Debatten, in denen sie nur geklärt werden kann, muss ebenso ernst genommen werden. Es ist nicht immer ganz leicht, eine Balance zwischen diesen beiden Aspekten zu finden: Legt man zu großen Nachdruck auf die Kräfteverhältnisse und sozialen Kämpfe, gerät man in den Verdacht, dem Manichäismus zu verfallen und die Frage der Ideen und Inhalte zu vernachlässigen. Konzentriert man sich dagegen auf die ideologischen und programmatischen Schwächen der Koalition für Gleichheit, gerät man in den Verdacht, sie zu schwächen und den kurzsichtigen Egoismus der herrschenden Klassen (der freilich oft offensichtlich ist) zu unterschätzen. Ich werde mein Bestes tun, in keine der beiden Fallen zu tappen, aber ich bin nicht sicher, ob mir dies stets gelingen wird und bitte Leserinnen und Leser im Voraus um Nachsicht"

(https://beckassets.blob.core.windows.net/productattachment/readingsample/15019993/33757016_leseprobe%20eine%20kurze%20geschichte%20der%20gleichheit.pdf)

 

Keine Kommentare: