Donnerstag, 11. April 2024

Nahostkonflikt - Weshalb es mehr als zwei Standpunkte braucht

 Trialoge

"Als Nadine Migesel und Shai Hoffmann die Regeln für die kommenden zwei Schulstunden verkünden, atmen die Jugendlichen kollektiv auf. „Lehrkräfte sagen bitte nichts“, stellen die beiden externen Referenten klar. Heute sollen die Schülerinnen und Schüler reden – und zwar über ihre Gefühle zum Nahostkonflikt. [...]
Die „Trialoge“ haben Shai Hoffmann und Jouanna Hassoun initiiert. Der 42-jährige Hoffmann ist Jude mit israelischen Wurzeln und lebt in Berlin. Als er kurz nach dem Angriff der Hamas auf Israel Videoaufnahmen im Netz sieht, auf denen ein Berliner Lehrer und ein Schüler im Pausenhof wegen einer Palästinaflagge aufeinander losgehen, beschließt er zu handeln. Zusammen mit der Deutschpalästinenserin Jouanna Hassoun stellt er Bildungsvideos zusammen, die den Konflikt aus verschiedenen Perspektiven zeigen. Daraus entstehen die Schulbesuche, bei denen die beiden mit Jugendlichen ins Gespräch gehen. An mehr als 60 Schulen bundesweit war Hoffmann bereits, aktuell sind weitere 300 Anfragen offen. Seine Tandempartnerin an diesem Tag ist Nadine Migesel. Die 29-Jährige ist Deutschpalästinenserin mit israelischem Pass und lebt in Köln. Sie hat gemeinsam mit anderen Aktivisten die Gruppe „Palestinians and Jews for Peace“ gegründet. Migesel und Hoffmann haben nahe Verwandte und Freunde in Israel, reisen mehrmals im Jahr dorthin.
[...] Was fällt euch ein, wenn ihr an den Nahostkonflikt denkt?“, fragt Hoffmann und blickt in die Runde. „Zionismus“, sagt eine Schülerin. „Kriegsverbrechen“, eine andere. „Antisemitismus“, entgegnet ein Schüler. Vor allem das Vorgehen der israelischen Armee wird hitzig diskutiert. „Über 30.000 Menschen sind im Gazastreifen schon gestorben“, sagt Fatima*, und ihre Stimme überschlägt sich leicht. Sie nennt damit eine Zahl, die für Medien gerade nicht unabhängig überprüfbar ist. „Das sind doch nicht mehr nur ‚viele Opfer‘.“ Alle hätten sie Namen gehabt, alle ein Leben. Die Schülerin trägt Kopftuch und bezeichnet sich als deutsch-arabisch. Aus ihrer Sicht geschieht den Palästinensern großes Unrecht. Sie stellt klar: „Ich bin für Palästina, nicht Hamas.“Ähnlich äußern sich auch andere Jugendliche. Sie sind enttäuscht, wie „einseitig“ sich Deutschland zum Nahostkonflikt positioniere und wie wenig die Bundesregierung gegen das Leid im Gazastreifen unternehme. 
„Eure Gefühle sind berechtigt“, sagt Nadine Migesel. Für Jugendliche heute sei schwer erklärbar, dass die Sicherheit des israelischen Staates deutsche Staatsräson ist. Diesen Begriff benutzte schon Angela Merkel früher und auch Bundeskanzler Olaf Scholz in jüngster Vergangenheit. Damit ist gemeint, dass für Deutschland Israels Sicherheit nicht verhandelbar ist. „Wir alle müssen uns bewusst machen, dass in Deutschland sehr verschiedene Perspektiven aufeinandertreffen“, so Hoffmann. So blickten Jugendliche mit Wurzeln aus einem früheren Kolonialstaat bestimmt ganz anders auf den Nahostkonflikt als die Enkel von NS-Zeitzeugen, für die die historische Verantwortung Deutschlands eine größere Rolle spielt.
Für das Goethe-Gymnasium in Frankfurt am Main ist das jedenfalls eine treffende Aussage – seine Schülerinnen und Schüler haben Wurzeln in über 60 Ländern. Die 18-jährige Kertina hört während des Gesprächs in der Aula nur zu, lässt die zu Wort kommen, die persönlich betroffen sind. Nach der Veranstaltung erzählt sie, warum auch sie der Nahostkonflikt so aufwühlt. „Ich spüre einen Druck, mich positionieren zu müssen.“ In den sozialen Medien komme man an dem Thema nicht vorbei. „Beide Lager erwarten, dass man ihnen recht gibt.“ In ihrem Bekanntenkreis gebe es mehr Verständnis für die Wut der palästinensischen Seite. Sie selbst blicke als Person of Color und Deutsche mit Migrationsgeschichte mit einer dekolonialen Perspektive auf die Welt. Sie könne die Kritik am Staat Israel, dem wegen der Besetzung des Westjordanlands und Ostjerusalems seit 1967 der Bruch des Völkerrechts vorgeworfen wird, nachvollziehen. Gleichzeitig sei ihr die Kritik manchmal zu radikal. Dass Jüdinnen und Juden für die Politik Netanjahus verantwortlich gemacht werden und sich auch hier in Deutschland nicht mehr sicher fühlen können, sei durch nichts zu rechtfertigen. Aber ebenso wenig, dass Muslime jetzt pauschal unter Antisemitismusverdacht stünden. „Es ist traurig, dass sich die beiden Seiten so unversöhnlich gegenüberstehen“, sagt Kertina. Die heutige Veranstaltung mache ihr aber Hoffnung, dass ein Dialog möglich sei. [...]"

Offenbar braucht es auch Personen, die für beide Standpunkte Verständnis haben.
Mehr dazu findet man unter dem Stichwort Mediation.

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