Donnerstag, 23. April 2020

euro|topics: Corona: Alle Macht der Wissenschaft?

In der Corona-Krise stehen Wissenschaftler im Fokus der Aufmerksamkeit wie selten. Vor allem führende Virologen und Epidemiologen, aber auch die zuständigen Behördenchefs sind zu Gesichtern der Krise in ihren jeweiligen Ländern geworden. Europas Presse debattiert über den richtigen Mittelweg zwischen Vernunft und Personenkult.
AARGAUER ZEITUNG (CH)

Deutungshoheit nicht den Virologen überlassen

Naturwissenschaftler sind nicht die einzigen, die Wege aus der Krise aufzeigen können, findet die Aargauer Zeitung:
„Dass die Politik auf die Wissenschaft hört, ist richtig. Wissenschafter gibt es aber nicht nur in der Virologie und Epidemiologie. Zurzeit wäre beispielsweise auch das Wissen von Ökonomen, Psychiatern und Verfassungsrechtlern besonders wichtig. Sie scheinen weniger Gehör zu finden, und das ist falsch. Wenn nun der Weg aus dem Lockdown beschritten wird, sollte die Politik ihre Entscheide ganzheitlich treffen - und sich etwa vor Augen halten, dass Firmenkonkurse und Massenarbeitslosigkeit zu Depressionen und gar zu Suiziden führen können. ... Eines ist klar: Wissenschafter liefern die Fakten, die Politiker treffen die Entscheide. Und die Politiker werden dafür auch die Verantwortung übernehmen müssen.“
Patrik Müller
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DE VOLKSKRANT (NL)

Zu viele Köche verderben den Brei

Dass der niederländische Premier Mark Rutte weiter dem Rat von nur wenigen Wissenschaftlern folgt, hält De-Volkskrant-Kolumnist Bert Wagendorp für richtig:
„Rutte ist abhängig von Experten, Virologen, Infektiologen und Mikrobiologen. ... Weil das Coronavirus viele dieser Experten vielfach auch vor Rätsel stellt, bekommt die Regierung Rat von den Einäugigen im Land der Blinden. ... Das Virus folgt einem komplizierten, aber eindeutigen Drehbuch. Es erscheint mir klug, dies mit einer eindeutigen Strategie zu bekämpfen und das Kommandozentrum klein zu halten. Wenn man dem noch ein paar Psychologen, Ökonomen oder Ethiker hinzufügen würde, die teuflische Dilemmas aufzeichnen, wird das Mark Ruttes Ende. Und das brauchen wir jetzt nicht auch noch.“
Bert Wagendorp
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DAGENS NYHETER (SE)

Die Sehnsucht nach Ersatzgöttern

In Schweden steht ein Großteil der Bevölkerung hinter dem Staatsepidemiologen Anders Tegnell und seinem Konzept möglichst geringer Beschränkungen. Dass ein Tegnell-Fanklub gegründet wurde und selbst traditionelle Medien sich in schwärmerischen Huldigungen ergehen, geht Dagens Nyheter entschieden zu weit:
„Schweden hat Gott abgeschafft und gilt mittlerweile als das säkularste Land der Welt. Vielleicht hat das mit dazu beigetragen, dass das Phänomen des Personenkults in der jüngeren Vergangenheit hier so extrem erstarkt ist. Unser [Ersatzgott] war lange der Psychologe, der dann in den 2010er Jahren vom Ideologen abgelöst wurde. Vielleicht werden die 2020er Jahre ja zur Ära des Wissenschaftsexperten? 2020 ist jedenfalls das Jahr Anders Tegnells. Auch wenn ich mutmaße, dass dieser reservierte Akademiker davon gar nicht besonders angetan ist.“
Lisa Magnusson
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ELDIARIO.ES (ES)

Zu symphatisch, um wahr zu sein

Fernando Simón leitet den Einsatzstab im spanischen Gesundheitsministerium und ist durch seine Ruhe und Bescheidenheit zum Sympathieträger geworden. Doch die Opposition bezweifelt seine Fachkompetenz und seit Kurzem gibt es eine Hetzkampagne in den sozialen Netzwerken. eldiario.es gibt eine ironisch gemeinte Anleitung, wie es einem gelingen kann, diesen geduldigen Menschen zu hassen:
„Hör dir auf keinen Fall an, was er sagt. Wendest du dich nicht sofort von ihm ab, wird es dir nie gelingen, ihn zu hassen. ... Denn hörst du ihm täglich zu, verfällst du seinem Zauber und er wird dir nett, menschlich oder gar sympathisch vorkommen. ... Schau stattdessen aus dem Zusammenhang gerissene Ausschnitte in sozialen Netzwerken an, zum Beispiel 'Fernando Simón lacht über die Toten' oder 'Fernando Simón versichert uns, dass es nur eine kleine Grippe sein wird'.“
Isaac Rosa
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LE SOIR (BE)

Jugend und Zivilgesellschaft mitentscheiden lassen

Die Bürgergesellschaft und insbesondere die jungen Menschen müssen bei der Entwicklung eines Konzepts zur Überwindung der Corona-Krise mitreden, fordern Mitglieder des Forum des Jeunes, das die französischsprachige Jugend Belgiens bei UN-Veranstaltungen vertritt, in Le Soir:
„Die Entscheidungen der kommenden Wochen sind politischer Natur und können nur getroffen werden, nachdem sämtliche betroffenen Parteien zu Rate gezogen wurden. ... Ob sie auf Experteninformationen basiert oder nicht, die Ausarbeitung der Nach-Covid-Strategie umfasst einen Anteil an kollektiven Entscheidungen. Dies ist umso wichtiger, als dass die Wege, die wir in den kommenden Tagen einschlagen werden, langfristig ausschlaggebend sein werden. Gerade weil eine Krisenstimmung es gewissen Ideen erlaubt, sich tief zu verankern, verdienen es die jungen Menschen, dass man ihnen Gehör schenkt.“
Norman Vander PuttenNadège CarlierOriane Schmidt
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Montag, 20. April 2020

Wie soll die Welt nach Corona aussehen?

Nachdem in ersten europäischen Ländern Schulen und Geschäfte teilweise wieder geöffnet worden sind, haben weitere Staaten Zeitpläne für eine Lockerung der Beschränkungen im Rahmen der Covid-19-Pandemie vorgestellt. Kommentatoren nehmen dies zum Anlass für Überlegungen, welche grundsätzlichen Änderungen die Krise nach sich ziehen sollte.
TAGES-ANZEIGER (CH)

Schluss mit politischer Schönfärberei

Wir müssen einen vernünftigen Umgang mit Risiken finden, fordert der Ethik-Professor Peter Schaber im Tages-Anzeiger:
„Die Welt war nicht vorbereitet auf die Corona-Pandemie, einige Staaten noch weniger als andere, keiner aber so, wie er hätte vorbereitet sein sollen. Dabei war immer mit einer Pandemie zu rechnen. ... Politikerinnen und Politikern ist es unangenehm, auf solche Probleme aufmerksam zu machen. Lieber suggeriert man, dass alles gut gehen wird. Wir sollten unsere Haltung überdenken und pessimistischer werden. ... Aber wir dürfen dabei nicht in einen passiven Pessimismus verfallen, der die Zukunft ausschliesslich düster sieht und nahelegt, dass da nichts zu machen sei. Denn zugleich sollten wir alles dafür tun, das Schlimmste bestmöglich im Zaum zu halten.“
Peter Schaber
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RZECZPOSPOLITA (PL)

Die gesamte Sozialordnung umkrempeln

Alles, nur kein Weitermachen wie vor der Krise wünscht sich Rzeczpospolita:
„Das Schlimmste wäre es, wenn wir die aktuelle Krise als eine Episode betrachten würden, die schnell vergessen werden muss. Denn davon, dass die Gesundheitsversorgung ein untergeordneter Bereich des Staates und der Gesellschaft ist, deren Probleme durch Privatisierung und Dezentralisierung des Managements gelöst werden können, kann uns nun niemand mehr überzeugen. ... Um das System zu ändern, muss die gesamte Ordnung der sozialen Solidarität neu aufgebaut werden, die konkret zum Beispiel durch das Steuersystem zum Ausdruck gebracht wird. Die aktuelle Krise bietet uns die Gelegenheit, eine ernsthafte Reform unseres Staates vorzunehmen.“
Marek Cichocki
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GORDONUA.COM (UA)

Bedingungsloses Grundeinkommen muss her

Dass die Sozialsysteme umgebaut werden müssen, meint auch der TV-Moderator Savik Shuster auf gordoncom.ua und macht einen konkreten Vorschlag:
„Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist die Verantwortung jedes einzelnen gegenüber Familie und Gesellschaft. ... Spanien hat bereits beschlossen, während und nach der Corona-Krise ein bedingungsloses Grundeinkommen zu bezahlen. ... Ich glaube, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen die wirksamste Maßnahme gegen Korruption ist. Denn wenn der Bürger für das verantwortlich ist, was er vom Staat erhält, wird er bestechliche Beamte beobachten. Weil das ganze gestohlene Geld ja aus seiner Tasche gestohlen wird. Deshalb schlage ich den Politikern im Parlament, in der Regierung und im Büro des Präsidenten vor, sich sehr ernsthaft dieser Sache anzunehmen.“
Savik Shuster
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LE TEMPS (CH)

Kulturelle Kollateralschäden vermeiden

Künstler und Kulturinstitutionen stellen derzeit vermehrt digitale Angebote bereit. Online-Erlebnisse können kollektiven Kulturgenuss jedoch nicht dauerhaft ersetzen, mahnt Le Temps:
„Seit Beginn der Ausgangssperre haben wir alle die Erfahrung eines virtuellen Angebots gemacht, das uns zunächst verführt, dann aber eine diffuse Melancholie in uns hinterlassen hat. Das erinnert uns daran, dass Kultur seit dem griechischen Theater mit kollektiver Emotion zu tun hat. Die Welt nach der Pandemie muss mehr noch als die Welt davor auf Umweltschutz ausgerichtet sein. Sie sollte auch menschlich sein, mehr noch als virtuell. Wenn der Moment gekommen sein wird, die durch das Virus verursachten Kollateralschäden zu bilanzieren, wäre es tragisch, wenn die fragilsten Festivals und Kultureinrichtungen, die im sozialen Gefüge einer Region verankert sind und die nicht von künstlichen Paradiesen träumen, am stärksten gefährdet sind.“
Stéphane Gobbo
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ÚJ SZÓ (SK)

Unsere Gewohnheiten sind langlebig

Mit dramatischen Prognosen sollte man vorsichtig umgehen, warnt der Journalist Pál Szombathy in Új Szó:
„Was soll man von diesen pessimistischen Zukunftsvisionen halten, die nun große Umwälzungen heraufbeschwören? Vielleicht lohnt es sich, über die Argumente nachzudenken, aber man sollte auch die dahinterliegenden Emotionen und Ängste zur Kenntnis nehmen. In schwierigen Zeiten strebt jeder danach, etwas Interessantes zu sagen, und dabei kommt es selbstverständlich zu Dramatisierungen. Niemand ist gegen die Auswirkungen des veränderten Alltags immun, doch zur Bewertung der Situation wäre etwas Abstand unerlässlich. ... Während solcher Umstürze sollte man vorsichtig urteilen. Das Virus kann eines Tages weg sein, wir bleiben aber die gleichen: Gefangene unserer Gewohnheiten. Deshalb glaube ich nicht, dass die wachstums- und konsumorientierte Welt am Ende ist.“
Pál Szombathy
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