Freitag, 23. Juni 2017

Karlspreisrede von Timothy Garton Ash

"[...] Viele europäische Gesellschaften haben große Schwierigkeiten damit, Ausmaß und Tempo der Zuwanderung zu akzeptieren, nicht zuletzt derjenigen, die durch den Abbau der Binnengrenzen in Europa bei gleichzeitiger unzureichender Sicherung der Außengrenzen des Schengenraums erleichtert wird. Und ich hoffe, dass sich der Karlspreisträger des Jahres 2002 – der Euro – nicht persönlich beleidigt fühlt, wenn ich darauf hinweise, dass die Eurozone, die ursprünglich die europäische Einigung vorantreiben sollte, in den letzten Jahren schmerzliche Gräben zwischen Nord- und Südeuropa entstehen ließ. Das sind unbequeme Wahrheiten, aber ich glaube, der Geist des Alkuin von York würde mir beipflichten, dass es Aufgabe des Wissenschaftlers ist, sie auszusprechen. [...]
Ich würde behaupten, dass der wichtigste Antriebsfaktor der europäischen Integration für drei Generationen nach 1945 individuelle, persönliche Erinnerungen an Krieg, Besatzung, Holocaust und Gulag, an Diktaturen, ob faschistische oder kommunistische, sowie an extreme Formen von Nationalismus, Diskriminierung und Armut waren. Nun haben wir zum ersten Mal eine ganze Generation von Europäern, die überwiegend – nicht alle, aber die meisten – seit 1989 ohne traumatische und prägende Erfahrungen dieser Art aufgewachsen sind. Sie kennen nur ein Europa, das weitgehend geeint und überwiegend frei ist. Fast zwangsläufig neigen sie dazu, das für selbstverständlich zu halten; denn der Mensch neigt ganz allgemein dazu, das, womit er aufgewachsen ist und was er um sich herum wahrnimmt, als in gewisser Weise normal, ja sogar natürlich zu betrachten. Czesław Miłosz beschreibt dieses Phänomen eindrücklich in seinem Buch Verführtes Denken. Er vergleicht uns darin mit Charlie Chaplin in dem Film Goldrausch, wo dieser vergnügt in einer Holzhütte herumwuselt, die bedrohlich über einem Abgrund hängt.
Ich hoffe, wir sind noch nicht so weit, aber wir müssen dieser Generation irgendwie vermitteln, dass das, was sie heute als normal betrachtet, historisch gesehen tatsächlich zutiefst abnormal ist – außergewöhnlich, außerordentlich. In seiner Dankesrede erwähnte Papst Franziskus im vergangenen Jahr Elie Wiesels Forderung nach einer „Erinnerungstransfusion“ an jüngere Europäer. Genau darum geht es. Natürlich lässt sich nichts mit der Wirkung unmittelbarer, persönlicher Erfahrung vergleichen. Doch die Beschäftigung mit der Geschichte hat unter anderem den Zweck, von den Erfahrungen anderer Menschen zu lernen, ohne sie selbst durchmachen zu müssen. Zu den ermutigenden Zeichen der letzten Monate gehört eine neue Mobilisierung bei dieser Nach-89er-Generation von Europäern, die zeigt, dass ihr Puls für Europa schneller schlägt." (karlspreis.de 25.5.2017)

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