Thomas Piketty: Kapital und Ideologie, 2020
Arno Widmann FR 11.3.20:
"2004 erklärte der US-Milliardär Warren Buffett, geboren 1930: „Wenn in Amerika ein Klassenkampf tobt, ist meine Klasse dabei, ihn zu gewinnen.“ [...]
Thomas Piketty zeigt, dass es diesen Klassenkampf gibt. Er zeigt, dass es ihn, solange die Geschichte zurückreicht, immer gegeben hat. Das Wort kommt bei ihm kaum vor. Er drückt sich anders aus. Er schreibt zum Beispiel: „Jede Gesellschaft, also jedes Ungleichheitsregime ...“ Das scheint mir eine zentrale Einsicht des Buches. Gesellschaft bildet sich nicht als Vertrag von Gleichen, sondern geht hervor aus einem Prozess der Unterwerfung. Für den werden Begründungen, Theorien, Ideologien herbeigeholt. Sie dienen nicht nur gegenüber den Unterworfenen als Rechtfertigung. Diese Mythen feuern auch die Sieger an. Sie verschaffen ihnen ihr Überlegenheitsgefühl. [...]
Frauen kommen in Thomas Pikettys Buch so gut wie nicht vor. Für ein Buch, das sich so grundsätzlich mit der Produktion und mit der Abschaffung von Ungleichheit beschäftigt, ist das eine völlig unverständliche Lücke.* Die ungleiche Behandlung der Frau ist eine die Menschheitsgeschichte fast überall, fast in jedem Moment durchziehende Konstante. [...]
Thomas Piketty : "Die verschiedenen menschlichen Gesellschaften haben in der Geschichte großen Erfindungsreichtum in der ideologischen und institutionellen Organisation sozialer Ungleichheiten bewiesen, und man wäre schlecht beraten, diese intellektuellen und politischen Konstruktionen bloß für einen trügerischen Deckmantel zu halten, der den Eliten dazu dient, ihre immer gleiche Herrschaft zu rechtfertigen.“ [...]"
* Meine Anmerkung: Nichts ist verständlicher als diese Lücke. Jemand, der daran geht, auf nur etwas über 1300 Seiten die ganze Marx-Engels-Ausgabe zu ersetzen, wird den Deubel daran tun, sich auch noch auf alle Spielarten weiblichen und männlichen Feminismus' einzulassen. - Nachdem Pickety den ersten Band seines Hauptwerkes "Das Kapital im 21. Jahrhundert" genannt hat, kam er nicht umhin, den zweiten "Kapital und Ideologie" nachzuliefern. Aber dass er deswegen befähigt wäre, nicht nur ein zweiter Marx, sondern auch noch eine zweite Simone de Beauvoir zu sein, dazu wird er sich bei allem - nicht völlig unberechtigten - Selbstbewusstsein gerade als Franzose gewiss nicht versteigen.
Binswanger (sehr wichtig, weil er weitgehend die Argumentation von Piketty nachvollzieht, in meinem Exzerpt ist nur ein kleiner Tel nachzuvollziehen):
https://www.republik.ch/2019/10/12/ungleichheit-ist-kein-naturgesetz
"[...] Natürlich ist «Capital et idéologie» ein (nicht ganz einfach zu verdauendes) historisches Monumentalwerk, aber es ist das Gegenteil einer Geschichtsphilosophie. Hier werden keine abstrakten Annahmen getroffen – über das Wesen des Menschen, die Funktionsweise von Machtsystemen, die Natur ökonomischer Zwänge –, aus denen Weltgeschichte sich gleichsam extrapolieren liesse. Hier werden Erklärungsmodelle auf die Probe der Statistik gestellt, und es wird nachgezeichnet, wie sich die Erklärungsmodelle, die verschiedene Gesellschaftssysteme für ihre Verteilungsstrukturen entwickelten, über die Zeit verändert haben. [...]
Weshalb mutet Piketty [...] dem Leser eine solche Masse an historischen Rückblenden zu? Weil nur historische Aufklärung das Bewusstsein schaffen kann, dass ökonomische Verhältnisse nicht von Naturgesetzen diktiert werden: «Die Ungleichheit ist nicht ökonomisch und technologisch bedingt. Sie ist ideologisch und politisch. [...] Der Markt und der Wettbewerb, der Profit und die Löhne, das Kapital und die Schulden, hoch und niedrig qualifizierte Arbeitskräfte, Staatsbürger und Ausländer, die Steuerparadiese und die Konkurrenzfähigkeit – nichts von alledem ist naturgegeben. Es handelt sich um soziale und sich historisch wandelnde Konstrukte, die vollständig vom Rechts-, Steuer-, Bildungs- und Politiksystem abhängen, das zu errichten man sich entschieden hat, und von den Kategorisierungen, auf welche die Gesellschaft sich abstützt.» [...]
Jenseits aller historischen Tiefenschürfungen und kulturanthropologischen Exkursionen tut Piketty in seinem neuen Buch vor allem eins: Er stellt die relevanten Fragen. Die Fragen, die so grundlegend und simpel sind, dass sie im Grunde den Horizont jeder Stammtischdiskussion bestimmen.
Warum ist in den meisten Teilen der westlichen Welt der Sozialstaat heute auf dem Rückzug und die Ungleichheit am Wachsen? [...]
Der Preis, den die aufklärerischen Kräfte für die Säkularisierung des politischen Systems bezahlt haben, war nach Piketty die Sakralisierung des Privateigentums: «Vom Augenblick an, wo man das Schema der Dreiständegesellschaft aufgibt, das ja weitgehend auf einem transzendenten, religiösen Fundament ruht, muss man neue Antworten finden, um gesellschaftliche Stabilität zu garantieren. Die Sakralisierung des Eigentums ist in gewisser Weise eine Reaktion auf das Ende von Religion als expliziter politischer Ideologie.» [...]
Grossbritannien zum Beispiel ging seiner Zeit voraus und erliess 1833 ein Gesetz, das die Sklaverei verbot und den ehemaligen Sklaven die vollen Bürgerrechte verlieh. Doch es wurde noch etwas Weiteres mit dem Gesetz beschlossen: Die vormaligen Sklavenbesitzer wurden vom Staat in vollem Umfang entschädigt, in Höhe des Marktwertes der Freigelassenen. Rund viertausend Sklavenbesitzer erhielten 20 Millionen Pfund Entschädigung für etwa 800’000 Sklaven – eine gigantische Summe, die damals 5 Prozent des britischen BIP ausmachte. [...]
Der wirkliche Fortschritt mit Bezug auf die Verteilungsgerechtigkeit – es sei denn, man betrachtet das Ancien Régime als vorbildlich – kam mit den Turbulenzen der Weltkriegsjahrzehnte, die den Boden für die «sozialdemokratische Phase» bereiteten. [...] Es waren nicht die physischen Zerstörungen der Kriege, sondern politische Entscheidungen, die in die «sozialdemokratische Phase» führten. Viele dieser Entscheidungen wurden aus der Not geboren und konnten nur in einer Krisensituation so gefällt werden. Aber sie waren nicht alternativlos.[...] Im goldenen Zeitalter der Mittelstandsgesellschaft wurden die Reichstumseliten massiv zur Kasse gebeten und die Unterschichten nur sehr mässig besteuert. [...] Ein entscheidender Faktor ist der Untergang der Sowjetunion. Eindrückliche Kapitel schreibt Piketty über die postkommunistischen Länder als Laboratorien des Hyperkapitalismus.
Die Wahlbeteiligung sinkt [...] In der Wählerschaft haben sich spektakuläre soziologische Verschiebungen vollzogen. Piketty nennt sie «die Umdrehung der Bildungsspaltung». [...] Die Niedrigqualifizierten wählen heute mehrheitlich rechts, die Linke erzielt die höchste Zustimmung bei den akademischen Eliten. [...] die Tatsache, dass in die künftigen Eliten massiv mehr investiert wird als in weniger erfolgreiche Auszubildende – betrachtet Piketty als einen der zentralen Gründe für die «Scheidung zwischen der Linken und der Unterschicht». Er plädiert deshalb für eine sozial ausgeglichenere Streuung von Bildungsausgaben. Auch in Jugendliche mit niedrigerem Qualifikationsniveau kann sinnvoll investiert werden, damit sie in der heutigen Dienstleistungsgesellschaft erfolgreicher werden. [...] Piketty kommt jedoch zum Schluss, dass weder die Klassenfrage noch die Offenheitsfrage eine vorrangige politische Konfliktlinie definiere. Womit wir es zu tun haben, sind zwei gleichberechtigte Gegensatzpaare, deren Kombination zu vier relativ ausgeglichen starken Blöcken führt: soziale Internationalisten, soziale Nationalisten, elitäre Internationalisten, elitäre Nationalisten. [...] Die vier Blöcke können je etwa ein Viertel des Elektorats an sich binden und nicht allein, sondern nur in wechselnden Allianzen regieren. Das ist aus Pikettys Sicht der Grund, weshalb in Frankreich wie in vielen anderen Ländern das Parteiensystem so unstabil geworden ist. Es fehlt der dominierende Grundkonflikt. Es gibt jetzt deren zwei. [...]«Die Rhetorik (der binären Auffassung) zielt natürlich darauf ab, die Progressiven für alle Ewigkeit an der Macht zu halten», sagt Piketty. «In Wirklichkeit riskiert sie aber, die Popularität der Nationalisten zu verstärken, besonders wenn es diesen gelingt, eine Form des sozialen Nationalismus zu entwickeln, das heisst eine Ideologie, die soziale und egalitäre Ziele verfolgt für die ‹im Land Geborenen› und den ‹nicht im Land Geborenen› mit harter Diskriminierung entgegentritt.» Eine progressive Politik, welche die Klassenfrage für überwunden erklärt und den Rechtspopulismus zu ihrem exklusiven Gegner macht, läuft demnach Gefahr, ihm zum Sieg zu verhelfen. [...]
Das Kernstück von Pikettys Erneuerungsprogramm bildet jedoch das klassischste Umverteilungsprogramm der Welt: Steuern. Er hält sowohl Einkommens- als auch Vermögenssteuern, die stark progressiv sind, für unabdingbar, um die Mittelstandsgesellschaft der «sozialdemokratischen Ära» zu restaurieren. Ohne massive steuerliche Eingriffe werden die Vermögens- und Einkommensdisparitäten unerbittlich weiter zunehmen.
Das Szenario der heilsamen Progression
Bei den Einkommen soll der oberste Satz 90 Prozent betragen, eine Massnahme, die aus heutiger Sicht wahnwitzig radikal erscheint, die aber in den Nachkriegsjahren in angelsächsischen Ländern dem normalen Standard entsprach und die erst bei extrem hohen, um den Faktor 10’000 über dem mittleren Einkommen liegenden Einkünften greifen würde.
Da Milliardäre heute, wie Piketty schon in «Das Kapital im 21. Jahrhundert» darlegte, einen durchschnittlichen jährlichen Vermögenszuwachs von 4 bis 8 Prozent erzielen, sollten Vermögenssteuern mindestens bei 5 bis 10 Prozent liegen. Andernfalls wird die Vermögenskonzentration an der Spitze der Reichtumspyramide konstant bleiben beziehungsweise immer weiter zunehmen.
Was Piketty vorschwebt, ist nicht eine Steuerhölle in noch nie dagewesenen Dimensionen: Die Gesamtabgaben-Quote würde in seinem Modell bei 50 Prozent liegen, also dort, wo sie sich in einigen skandinavischen Ländern und in Frankreich schon heute befindet. Neu wäre lediglich, dass das Steuersystem wieder wirklich progressiv gestaltet sein soll [...]
Piketty [... ] will das Privateigentum nicht abschaffen, ganz und gar nicht, aber er will es auch nicht sakralisieren. Vielmehr soll es gezielt so eingeschränkt werden und so fluid bleiben, dass seine Hyperkonzentration das wirtschaftliche und das gesellschaftliche System nicht beschädigt. Ebenso müssen Privatinitiative und Innovationskraft zwar geschützt werden, aber das bedeutet nicht, dass hohe, progressive Steuern aus Prinzip des Teufels sind. Die historische Erfahrung – so man sie denn ernst nehmen will – lehrt etwas völlig anderes. [...]"
Was Piketty freilich fehle, so Biswanger, sei eine Machtstrategie, wie er diese Ziele erreichen könne.
Kuchenbecker:
https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/thomas-pikettys-zweites-buch-der-star-oekonom-der-jedem-franzosen-120-000-euro-schenken-will/25005412.html
Beck Verlag:
"[...] Der Haupttreiber der Ungleichheit – dass Gewinne aus Kapital höher sind als die Wachstumsraten – droht heute vielmehr extreme Formen von Ungleichheit hervorzubringen, die den sozialen Frieden gefährden und die Werte der Demokratie unterminieren.[...]"
https://www.youtube.com/watch?v=fE3Nyckzojg
Zielcke SZ 10.3.20
SWR2
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