Montag, 16. März 2020

euro|topics: Europäische Kommentare zur Coronaepidemie


Corona: Lockdown versus Herdenimmunität
Europaweit werden Grenzen abgeriegelt, Schulen geschlossen und Veranstaltungen verboten. In Italien, Spanien und anderen Ländern gilt sogar eine Ausgangssperre. Großbritannien hingegen hielt sich bislang mit drastischen Maßnahmen zurück. Man setzte darauf, dass sich die Bevölkerung in Maßen ansteckt. So soll eine Herdenimmunität erreicht werden. Eine fatale Strategie?
THE SUN (GB)

Nicht nur Menschen, auch Unternehmen retten

Die britische Regierung berücksichtigt in ihrem Handeln zu recht die Auswirkungen auf die Wirtschaft, meint The Sun:
„So viele Leben wie möglich zu retten, hat natürlich Priorität. Doch die Rettung von Unternehmen und Arbeitsplätzen ist nun ganz besonders dringlich geworden. Die Warnung von British Airways, dass die große Fluglinie ums Überleben kämpfe, ist beängstigend. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. ... Die neue Regierung von Boris Johnson ist in den ersten drei Monaten ihres Bestehens von der schlimmsten Krise seit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch 2008 getroffen worden. ... Sie muss alles nötige Geld investieren, um gesunde Unternehmen über Wasser zu halten.“
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THE GUARDIAN (GB)

Die sanfte Tour macht alles nur noch schlimmer

Scharfe Kritik an der britischen Regierung übt The Guardian:
„Stellen Sie sich vor, Ihr Haus brennt, und die Menschen, die sie gewählt haben, damit sie sich um Sie kümmern, versuchen nicht, es zu löschen. Obwohl sie wussten, dass das kommen würde, und sehen konnten, was mit den Nachbarn geschah, als diese plötzlich überwältigt wurden, haben die Mitglieder der britischen Regierung unerklärlicherweise beschlossen, die Flammen anzuheizen - in der fehlgeleiteten Annahme, dass sie sie irgendwie kontrollieren könnten. ... Großbritannien sollte nicht versuchen, eine Herdenimmunität zu erreichen, das wird schon von selbst passieren. Die Politik sollte darauf ausgerichtet sein, den Ausbruch der Pandemie auf eine überschaubarere Rate zu verlangsamen.“
William Hanage
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LA STAMPA (IT)

Riskante Wette

Wirtschaftsjournalist Francesco Guerrera erklärt in La Stampa, worin das Risiko besteht, auf die Herdenimmunität zu setzen:
„Die Briten gehen davon aus, dass viele Menschen infiziert werden, unabhängig davon, wie die Behörden entscheiden. Ihr Ziel ist nicht, wie in Italien, die Epidemie zu stoppen, sondern sicherzustellen, dass die begrenzten Ressourcen der Gesundheitsinfrastruktur den Höhepunkt der Epidemie auffangen und dann die schlimmsten Fälle heilen können. Der Kerngedanke ist die 'Herdenimmunität' - basierend auf der Tatsache, dass diejenigen, die das Virus überleben, nicht mehr infiziert werden können. ... Britische Experten sprechen von einem 'Gleichgewicht zwischen Infektion und Hospitalisierung'. Aber selbst mit dieser 'Rechnung' könnte die Zahl der Todesfälle in Großbritannien zwischen 80.000 und einer halben Million liegen.“
Francesco Guerrera
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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG (DE)

Vorbild Südkorea

Südkorea hat gezeigt, dass auch eine Demokratie das Virus erfolgreich bekämpfen kann - und das ohne Lockdown, erklärt die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Von Anfang an hat man dort Prioritäten gesetzt: Nirgends wurde mehr getestet, kaum irgendwo wurden Kontaktpersonen so konsequent ermittelt und in Quarantäne genommen. Isolation war Vaterlandspflicht. ... Inzwischen wird praktisch jeder Schritt von Infizierten mit einer App auf dem Handy überwacht. Isolation ist bindend, diese Botschaft wird nicht nur durchgesetzt, sie wird offenbar auch verstanden. Weder ist die koreanische Demokratie gefährdet, noch hat das Vertrauen in die Regierung erkennbar gelitten. ... Und der Erfolg ist messbar, Leben wird gerettet.“
Joachim Müller-Jung
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EL PAÍS (ES)

Möge das bessere Konzept gewinnen

Die Regierungen tasten sich durch Versuch und Irrtum an den richtigen Umgang mit der Krise heran, stellt El País fest:
„In keiner Krise der Geschichte der Menschheit hat die Wissenschaft eine so bedeutende Rolle gespielt. Aber statt eines globalen Konsens darüber, wie man reagieren sollte, sehen wir so vielfältige nationale Antworten wie selten. ... Wir Bürger müssen uns klarmachen, dass unsere Politiker - selbst wenn sie sich von den besten Absichten und den besten ihnen zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Daten leiten lassen - geirrt haben und sich irren werden. So entwickelt sich Wissen: durch die Methode von Versuch und Irrtum. ... Dank so vielfältiger nationaler Reaktionen können wir in relativ kurzer Zeit sehen, welche Maßnahmen besser funktionieren. Fehler führen uns zum Erfolg.“
Víctor Lapuente Giné
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Corona: Lockdown versus Herdenimmunität
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Macht die Presse erst die Panik?
Die unübersichtliche Informationslage in einer Ausnahmesituation wie der Corona-Pandemie begünstigt auch die Verbreitung von Falschmeldungen und Gerüchten. Tragen die Medien eine Mitverantwortung für Hamsterkäufe und andere irrationale Reaktionen auf das Virus?
KURIER (AT)

An Fake News sind wir alle schuld

Das Coronavirus ist ein Schulbeispiel dafür, wie sich Falschnachrichten und Gerüchte verbreiten, stellt der Kurier fest:
„Gerade in Krisenzeiten sind wir emotional besonders anfällig für Meldungen, die uns in unseren Ängsten und Vorurteilen bestärken oder unverhofft einfache Lösungen und Auswege bieten. ... Das Problem mit Fake News: In die Welt gesetzt werden sie nicht nur von ominösen russischen Hackern, die die US-amerikanischen Präsidentenwahl sabotieren wollen. Oder von fehlgeleiteten Spaßvögeln, die sich in Notsituationen eine Freude daraus machen, andere zu verunsichern. ... Wir alle sind (mit-)schuld, dass sich solche Nachrichten wie ein Lauffeuer verbreiten können. ... Weil wir in die Falle tappen. Weil wir einen Moment lang unachtsam sind. Und weil unsere Daumen viel zu locker sitzen, wenn es darum geht, online den 'Teilen'-Button zu klicken.“
Christoph Schwarz
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ELDIARIO.ES (ES)

Dauer-Alarm macht taub

Selbstkritik übt der Chefredakteur von eldiario.es, Ignacio Escolar, der am 8. März noch auf der Frauentagsdemo war und das nachträglich für einen Fehler hält:
„In den vergangenen Wochen ging es mir in eldiario.es darum, nicht zu viel unnötige Panik wegen des Coronavirus zu verbreiten. Heute habe ich das umgekehrte Gefühl: Es gibt zu viele Personen, die noch immer nicht verstehen, was eigentlich passiert, die nicht die geringsten sanitären Empfehlungen umsetzen, den Ernst der Lage ignorieren oder sich verträumten Verschwörungstheorien hingeben. ... Möglicherweise müssen wir uns als Medien einen Teil der Schuld für unsere geringe Glaubwürdigkeit selbst zuschreiben. So oft haben wir vor dem Kommen des Wolfes gewarnt, dass uns nun manche nicht mehr glauben, dass er da ist.“
Ignacio Escolar
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Macht die Presse erst die Panik?
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Ego oder Solidarität - wie verändert uns das Virus?
Die Covid-19-Pandemie stellt Europas Wirtschaft und Gesellschaft auf eine harte Probe: Krankenhäuser müssen Patienten abweisen, Schulen, Kultureinrichtungen und Grenzen wurden geschlossen, ganze Branchen sind lahmgelegt - eine Herausforderung für die ganze Bevölkerung. Kommentatoren loten aus, wie das Virus das Denken und Handeln bei Politikern, Unternehmern und Bürgern verändert.
AVVENIRE (IT)

Jeder für sich, alle zusammen

Millionen Italiener müssen wegen des Coronavirus zu Hause bleiben - doch sie musizieren gemeinsam auf den Balkonen und spenden den Ärzten Beifall. Avvenire freut sich über diesen Patriotismus:
„Wir respektieren die Regeln, die für die Gesundheit jedes Einzelnen gelten, wir stellen uns in einer Reihe mit Abstand zueinander außerhalb des Supermarktes auf. Und das nicht, weil Sanktionen drohen, sondern weil wir wissen, dass dies die einzige Waffe ist, die wir haben, um zu gewinnen. Wir sind Bürger, nicht Untertanen. Was für ein Stolz steckt hinter dem Applaus für Ärzte und Krankenschwestern, für die Polizeikräfte. ... Sie sind heute unsere Champions, unsere Nationalmannschaft. Wie schön ist es, so viele Italiener zu sehen, die von Balkon zu Balkon lauthals die Nationalhymne, 'Nel blu dipinto di blu', 'Azzurro' oder 'Viva l'Italia' singen.“
Danilo Paolini
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DE VOLKSKRANT (NL)

Das Comeback des Staats

Die Pandemie hat die Kräfteverhältnisse zwischen Politik und Wirtschaft wieder gerade gerückt, konstatiert Volkskrant-Kolumnist Bert Wagendorp zufrieden:
„Der Staat ist wieder zurück. Als Hüter der Bürger und des allgemeinen Interesses, als Retter des Landes und als großzügiger Geldgeber für Betriebe. ... [Die Kreditkrise von 2008] führte nicht zu einer wesentlichen Veränderung des neoliberalen Wirtschaftsparadigmas, des heiligen Glaubens an den Markt und die heilsame Wirkung des Individualismus und Eigeninteresses. Der freie Markt funktioniert gut, solange Kohle verdient werden kann, aber in der Krise ist er weit weg. Dann müssen Regierungen die Kastanien aus dem Feuer holen. ... Aber jetzt gibt das Coronavirus diesem Prinzip hoffentlich den finalen Todesstoß.“
Bert Wagendorp
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LE POINT (FR)

Macron plötzlich auf Linkskurs

Die bedingungslose staatliche Unterstützung für Gesundheitssystem und Wirtschaft, die Frankreichs Präsident am Donnerstag in einer TV-Ansprache angekündigt hat, bedeuten einen krassen Bruch mit seiner bisherigen Politik, konstatiert Le Point:
„Covid-19 hat gerade ein weiteres Opfer gefordert, und zwar den sozialliberalen Globalisierungsbefürworter Emmanuel Macron, der sich nunmehr für eine Stärkung des Wohlfahrtsstaats ausspricht, die Marktwirtschaft infrage stellt, den Nutzen des Protektionismus preist und nicht einmal mehr zögert, die Politik der EZB zu kritisieren, die er als äußerst unzureichend beurteilt. Hörte man dem Staatschef Donnerstagabend zu, konnte sich sogar fragen, ob die Sozialisten nicht endlich einen neuen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl gefunden haben.“
Pierre-Antoine Delhommais
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NEUE ZÜRCHER ZEITUNG (CH)

Prüfung für das westliche Wertesystem

Der Ethikprofessor Martin Booms denkt in der NZZ über die Folgen der Krise für eine bereits verunsicherte westlich-liberale Gesellschaft nach:
„[D]ie Corona-Krise wird sich nur bewältigen lassen auf dem Boden eines Werteverständnisses, das das Eigeninteresse gerade dadurch befördert sieht, dass es sich am Gemeininteresse orientiert - eine Wertevorstellung, die ursprünglich sowohl der liberalen Marktordnung als auch dem politischen und gesellschaftlichen Liberalismus als Ausdrucksformen eines umfassenden Humanismus eingeschrieben war. ... Gelingt es, sich auf die ... Fundamente des westlich-liberalen Verständnisses zurückzubesinnen, liegt am Ende in dem biologischen Problem eine gesellschaftliche Chance.“
Martin Booms
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Ego oder Solidarität - wie verändert uns das Virus?
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Wählen trotz Pandemie?
Unter strengen Hygienevorschriften wurde am Sonntag die erste Runde der französischen Kommunalwahlen abgehalten - trotz vielfacher Kritik und Ausnahmezustand. Die Wahlbeteiligung sank um knapp 20 Prozentpunkte auf rund 45 Prozent. Auch andere Staaten stehen vor der Frage, ob Urnengänge auch während der Corona-Pandemie stattfinden sollen. Kommentatoren sind diametral unterschiedlicher Ansicht.
OUEST-FRANCE (FR)

Das Virus ist nicht die einzige Herausforderung

Gerade in diesen schweren Zeiten ist die Wahl eine Gelegenheit, Demokratie und Solidarität zu stärken, betont Ouest-France mit Blick auf die Wahlhelfer:
„Sie rufen uns in Erinnerung, dass diese Wahlen wichtig sind und dass das Coronavirus nicht die einzige Schwierigkeit ist, die wir zu bewältigen haben. … Es ist zu hoffen, dass diese Kommunalwahlen es trotz der Umstände allen Bürgern erlauben werden, sich bewusst zu machen, dass sie echte Akteure des demokratischen Lebens sind. Und ebenso, dass die Wahlgewinner ohne Sektierertum auf das erhaltene Vertrauen reagieren, dass sie alle kommunalen Volksvertreter einbinden, um die vielzähligen und schlimmen Herausforderungen bestmöglich zu bewältigen. Dann werden unsere Gemeinden solidarischer, menschlicher, fröhlicher. Dann hat die Demokratie gute Zukunftsaussichten.“
Jeanne Emmanuelle Hutin
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GAZETA WYBORCZA (PL)

Die Demokratie wird verspottet

In Polen steht im Mai die Präsidentschaftswahl an. Kommentator Andrzej Machowski erklärt in Gazeta Wyborcza, warum die Wahl verschoben werden muss:
„Die Ehrlichkeit einer Wahl besteht nicht nur darin, dass alle Stimmen ausgezählt werden, die in die Urnen hineingeworfen werden. Für die Fairness der Wahl ist Chancengleichheit ebenso wichtig. Während die Kampagne ausbleibt, sind die Amtierenden ständig in allen Medien präsent (im Kampf gegen das Coronavirus). Deshalb kann eine Wahl, die im Mai stattfindet, mit einem Rennen verglichen werden, bei dem fünf Teilnehmer 100 Meter und einer - Präsident Andrzej Duda - nur 50 laufen sollen. ... Man kann zudem keine anständige Wahlbeteiligung erwarten. Ich glaube nicht, dass sie 40 Prozent erreichen würde. Eine Entscheidung für die Wahl wäre eine Verspottung der Demokratie.“
Andrzej Machowski
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