"[...] Sandel: Inzwischen regieren meritokratische Ideen die Köpfe: Wer Erfolg hat, meint meistens, er habe ihn auch verdient. Er hält seinen Erfolg für selbstgemacht und sieht in ihm einen Ausdruck von individueller Handlungsfähigkeit. In der Folge hält der Erfolgreiche dann aber auch das Scheitern von anderen, die vergeblich hart kämpfen, für verdient – für deren gerechtes Schicksal. Diese meritokratische Ideenwelt ist verführerisch, aber sie ist irreführend. Sie vergisst nicht nur, dass es biografische Zufälle und pures Glück gibt, die über Lebensverläufe entscheiden. Sondern sie nimmt auch nicht wahr, dass wir in Herkünfte, in Familien, in Nationen, in Infrastrukturen eingebettet sind, die unsere individuelle Handlungsfähigkeit erst ermöglichen und prägen. Ohne diese Einbettungen wären wir als Individuen nicht, was wir sind.
ZEIT: Was bleibt von der westlichen Idee, selbstbestimmt handeln zu können? Ist sie zu retten?
Sandel: Es wäre ein fehlerhaftes Verständnis von Freiheit, wenn man sich auf eine Idee vom Handeln beschränkte, die Erfolg und Scheitern als individuell selbstgemacht verstünde. Die liberale Idee, dass Freiheit bedeutet, zu bekommen, was man möchte, halte ich für eine verarmte Idee. Sie beschränkt sich auf Konsumbedürfnisse, ohne zu ergründen, ob sie geeignet sind, ein gutes Leben und das Gemeinwohl zu stärken. Freiheit im politischen Sinne bedeutet für mich hingegen, als Bürger zu wissen, dass es im Gemeinwesen einer Republik auf meine Meinung und meine Stimme wirklich ankommt. Das lässt sich nur in einer bestimmten Lebensweise umsetzen: indem ich mit den anderen darüber beratschlagen kann, was eigentlich ein gutes Leben ist.[...]"
https://www.zeit.de/2023/32/michael-sandel-philosoph-demokratie-liberalismus/komplettansicht
ZEIT 27.7.23
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