Freitag, 27. Oktober 2023

Kontroverse um die Rede von Slavoj Žižek bei der Buchmesse

Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek hat mit Aussagen zu Israel und zur Hamas an der Frankfurter Buchmesse Proteste ausgelöst Arne Dedert / DPA

NZZ 18.10.23

Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek deutete die Zwischenrufe aus dem Publikum während seiner Eröffnungsrede als «Ausschluss Andersdenkender».

An der Eröffnungsfeier der Frankfurter Buchmesse gibt der slowenische Philosoph Slavoj Žižek Israel eine Mitschuld an den Massakern der Hamas.

An der Eröffnungsfeier der Frankfurter Buchmesse waren sich am Dienstagabend alle einig. Dann kam Slavoj Žižek. Der slowenische Philosoph trat als Redner des Gastlandes Slowenien auf, ergriff das Wort, brach den bisher vorherrschenden Konsens und provozierte damit erst Zwischenrufe und bald Stühlerücken, als ein Teil des Publikums den Saal verliess.

Er verurteile das Massaker der Terrororganisation Hamas an der israelischen Bevölkerung bedingungslos und anerkenne auch Israels Recht, sich zu verteidigen und die Bedrohung zu beseitigen, sagte Žižek zunächst. Damit wiederholte er, was seine Vorredner bereits betont hatten.

Die Frankfurter Buchmesse, an der sich derzeit die Literaturwelt versammelt, steht ausdrücklich an der Seite Israels. Bereits bei der Eröffnungspressekonferenz, die ebenfalls gestern Dienstag stattgefunden hatte, verurteilte Direktor Jürgen Boos die Hamas aufs Schärfste: «Der Terror gegen Israel widerspricht allen Werten der Frankfurter Buchmesse.» Man stehe «mit voller Solidarität an der Seite Israels» und gedenke der Opfer und aller betroffenen Menschen, die in Israel und Palästina unter dem Terror der Hamas leiden würden.

So weit auch Žižek. Dann allerdings kam ein Aber, das in Frankfurt für Aufruhr sorgte: «Aber was wir in Gaza erleben, ist auch ein Angriff auf die Menschenwürde.» In diesem Zusammenhang sei ihm allerdings etwas Merkwürdiges aufgefallen: «In dem Moment, in dem man die Notwendigkeit erwähnt, den komplexen Hintergrund der Situation zu analysieren, wird man gewöhnlich beschuldigt, den Terrorismus der Hamas zu billigen oder zu unterstützen.»


«Eine Schande»

Die Komplexität der Situation erkennt Žižek primär darin, dass Israel der palästinensischen Bevölkerung keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft gebe, «es bietet ihnen keine Vision von einem Staat, in dem sie eine positive Rolle spielen können». Damit insinuierte er eine Mitschuld Israels an den Massakern.

Da platzte unter anderem dem hessischen Antisemitismusbeauftragten Uwe Becker der Kragen. «Sie können den Hamas-Terror nicht mit israelischer Politik gleichsetzen», rief er Žižek zu. Als dieser damit weiterfuhr, dass die europäische Rechte es liebe, Israel zu unterstützen – ähnlich wie einst der Nationalsozialist Reinhard Heydrich, der einen jüdischen Staat im Nahen Osten befürwortet habe, schmetterte Becker dem Philosophen entgegen, was er sage, sei «eine Schande».

Žižek hingegen deutete die Zwischenrufe aus dem Publikum als «Ausschluss Andersdenkender». Ein Schicksal, das er, wie er hinzufügte, unter anderem mit den Palästinensern teile. Becker und andere Gäste verliessen darauf den Saal noch während Žižeks Rede. Manche, darunter auch Becker, kamen später wieder zurück.

Messedirektor Boos hinderte den slowenischen Gast zwar nicht daran, seine Rede zu Ende zu führen. Doch er liess Žižeks Worte nicht unkommentiert stehen, sondern ergriff spontan selber erneut das Wort. «Ich bin froh, wenn eine Rede unterbrochen wird. Das muss möglich sein», sagte er. Gleichzeitig sei er auch froh, dass die meisten die Rede zu Ende gehört hätten, «auch wenn sie uns nicht gefallen mag. Auch wenn wir sie sogar verurteilen, es ist wichtig, dass wir uns zuhören.» Die Buchmesse stehe für die Freiheit des Wortes.

Auch am Tag darauf gaben Žižeks Worte zu reden. Etwa an der vom PEN Berlin organisierten Diskussionsrunde «Sorge um Israel» mit den Schriftstellern Doron Rabinovici und Tomer Dotan-Dreyfus sowie dem Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel. Die drei waren sich zwar einig, dass eine Kontextualisierung der Gesamtsituation in Nahost, wie Žižek sie tags zuvor gefordert habe, unabdingbar sei. Gleichzeitig erklärte Mendel, angesichts des Leids in Israel schlicht noch nicht in der Lage zu sein, über eine Kontextualisierung nachzudenken.

Ihm fehle zudem bei vielen Linken die Bereitschaft, Worte wie Beeri oder Nir Oz – Namen von Orten, an denen die Hamas Massaker verübte – als Synonyme für das absolut Böse zu betrachten. So, wie das etwa bei Butscha diskussionslos der Fall gewesen sei. «Erst wenn wir diese gemeinsame Grundlage haben, ohne dass mir ein Slavoj Žižek erklärt, das müsse kontextualisiert werden, erst dann können wir über alles reden. Auch über die Fehler Israels.» Auf diese Aussage folgte lauter Applaus.


Verzicht auf Preisverleihung

Der Eklat am Eröffnungsabend mag der bisher publikumswirksamste in Frankfurt gewesen sein. Der erste, der durch das Massaker der Hamas und dessen Folgen angestossen wurde, ist es nicht. Bereits am Sonntag sagten mehrere Vertreter aus muslimischen Ländern, darunter Indonesien oder Malaysia, ihre Teilnahme an der Buchmesse ab. Das Resultat sind leere Räume in den Messehallen. Wo etwa die Bücher von Souad al Sabah Publishing aus Kuwait aufliegen sollten, ist nur schwarzer Boden und kaltes Neonlicht zu sehen. Auch Stände von Verlagen aus den Arabischen Emiraten oder Saudiarabien sind leer geblieben.

Der Grund für die Absagen aus dem muslimischen Raum liegt darin, dass man in Frankfurt einerseits «jüdische und israelische Stimmen nun besonders sichtbar machen» wolle, wie Messedirektor Boos erklärte. Gleichzeitig aber verzichtete man auf die Verleihung des Literaturpreises an die palästinensische Autorin Adania Shibli. Die Auszeichnung des Vereins Litprom wird an Autorinnen aus Schwellen- und Entwicklungsländern vergeben.

Die Palästinenserin Shibli erhielt die Auszeichnung für ihren Roman «Eine Nebensache». Das Buch wurde einerseits hoch gelobt, andererseits wegen angeblich antisemitischer Klischees mehrfach kritisiert. Aufgrund der gegenwärtigen Entwicklungen verzichtet der Verein Litprom nun allerdings auf eine Preisübergabe in Frankfurt. Dieser Entscheid wurde von mehreren Autoren in einem offenen Brief kritisiert.

Zu den Kritikern gehört auch die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, deren Nähe zur israelfeindlichen BDS-Bewegung kurz nach der Ankündigung des Nobelpreises publik wurde. Auch Žižek betonte in seiner Rede, die Verschiebung der Preisübergabe sei skandalös und gar «ein Paradox der Cancel-Culture».

Gecancelt wurde Žižek selbst in Frankfurt nicht, auch wenn er das zu behaupten schien. Bereits am Mittwoch fand eine weitere Veranstaltung mit dem Philosophen statt. Dort verglich er die negativen Reaktionen auf seinen Auftritt vom Vorabend mit Redeverboten in der DDR. Seine Forderung nach Kontextualisierung der Geschehnisse in Nahost setzte er mit den Erklärungsversuchen zum Aufstieg von Adolf Hitler und dem Nationalsozialismus in Deutschland gleich. Denn «grosse Verbrechen sind immer Reaktionen auf intransparente Situationen».

Žižek fordert Kontextualisierung

Auf der Literaturbühne der Buchmesse sagte Žižek nun, er verurteile "ohne Wenn und Aber" das Handeln der Hamas und relativiere nichts. Man müsse aber fragen, was der Hintergrund sei, vor dem große Verbrechen geschähen.

Der Direktor der Frankfurter Buchmesse, Juergen Boos, sagte zu Žižeks Rede: "Es ist die Freiheit des Wortes. Und die müssen wir hier stehen lassen, das ist mir wichtig." Er betonte zugleich: "Wir verurteilen den Terror. Wir sind Menschen und wir denken menschlich. Menschlich, auf israelischer Seite, auf palästinischer Seite." Er sei auch froh, "wenn eine Rede unterbrochen wird", sagte Boos. "Das muss möglich sein. Ich bin froh, dass wir die Rede zu Ende gehört haben, auch wenn sie uns nicht gefallen mag. Auch wenn wir sie sogar verurteilen, es ist wichtig, dass wir uns zuhören."

Unterstützung erhielt Žižek von mehreren israelischen Intellektuellen, darunter dem Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfus. Er sagte, Žižek habe viel Kritikwürdiges gesagt. Zutreffend aber sei seine Diagnose, dass es wichtig wäre, die Situation besser zu analysieren. "Ich wünsche mir, dass ich diese Komplexität besser verstehen kann. Damit wir bessere Lösungen finden. Weil die Lösungen, die wir gerade haben, scheinen seit Jahrzehnten nicht zu funktionieren." Der Historiker Doron Rabinovici sagte, Teile von Žižeks Rede seien ihm "fremd" gewesen. Zutreffend aber sei: "Es gibt ein Leid des palästinensischen Volkes."

https://www.zeit.de/kultur/literatur/2023-10/slavoj-zizek-buchmesse-kritik-verteidigung-antisemitismus



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