"[...] Dieses Zurechtstutzen der Person auf eine wiedererkennbare, wettbewerbsfähige Haltung führt mit dazu, die Gesellschaft in „Spiegelwelten“ aufzusplittern, deren jeweilige Ethik nicht aus der Auseinandersetzung mit konkreten Umständen und Vorstellungen von Gerechtigkeit abgeleitet wird, sondern nur im Gegensatz zur Position der anderen Seite stehen muss. Politik ist nicht länger ein Prozess gesellschaftlicher Veränderung, sondern nur noch Markentreue. Von der Diagnose einer ‚gespaltenen Gesellschaft‘ brauchen wir nicht allzu viel zu halten, um solche Phänomene beobachten zu können. Die Weigerung, Komplexität jenseits einfachster Bekenntnisse für ‚gut‘ und gegen ‚böse‘ anzuerkennen, verflacht auch die Person zum Display, auf dem die Haltung des Augenblicks abgefragt werden kann.
Dass das Profil auf Social Media Persönlichkeit als Kontinuität darstellt, im besten Fall als öffentliches Tagebuch gelesen werden kann, interessiert nicht weiter, wenn es nur auf die aktuelle Performance ankommt. Umgekehrt werden oft genug alte Posts herausgesucht, um damit die fehlende moralische Integrität einer Person anzuzeigen. Post um Post setzen wir weitere Doppelgänger:innen unserer selbst in die Welt, die uns gegenüber zu nichts verpflichtet sind, im Zweifelsfall aber stets gegen uns aussagen werden. [...]
Verschwörungstheoretiker:innen mögen bei den Fakten falsch liegen, schreibt Klein, doch nicht im Gefühl. Und in der Tat lag während der Pandemie vieles im Argen, was auf konkrete Machtverhältnisse zurückgeführt werden könnte – seien es die Prekarisierung der Pflege, das Geschacher der Pharmaindustrie um Patente, anstatt die Impfstoffe für weltweite Herstellung freizugeben, oder die klaren Interessen der Techindustrie an einer erzwungenen Digitalisierung. Weshalb also eine Erklärung für solche Missverhältnisse suchen, die auf den ersten Blick als wirre Fantasterei zu erkennen sein sollte – warum schlechte Science-Fiction über verimpfte Überwachungschips verbreiten, anstatt sich beispielsweise für offene Softwarestandards und eine gerechtere Gesundheitspolitik einzusetzen?
Die erste Antwort ist: Weil es zu kompliziert wäre. „Der paranoide Verstand ist viel kohärenter als die wirkliche Welt“, schrieb der Historiker Richard Hofstadter bereits 1964 in seinem Essay „The Paranoid Style in American Politics“. Wenn Bill Gates und George Soros als übermächtige Strippenzieher für alles verantwortlich sind, was in der Welt schiefläuft, bleiben nicht allzu viele Fragen offen und erst recht nicht diejenige, auf welcher Seite man steht. In dieser Vereinfachung auf ein Schema von Gut vs. Böse fällt vieles weg, und genau dies könnte die Taktik dahinter sein. Klein nennt dies „Wege des Nichtsehens“, eine Weltsicht, davon geprägt, an den wesentlichen Problemen, an den konkreten menschlichen Anliegen vorbeizuschauen, die hinter den immer weiter gespiegelten Doppelgänger:innen verborgen bleiben. [...]" (JACOB BIRKEN: Wege des Nichtsehens, auf 54books: 26.10.23)
Sieh auch: Naomi Klein: Doppelganger. A Trip into the Mirror World Penguin Books, London 2023.
Differenzierung ist wichtig, aber Fokussierung auch. Und Kritik muss sich im Sinne der "konkreten menschlichen Anliegen" notgedrungen auf das zu Verändernde fokussieren/konzentrieren. (Fonty)
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