Wolfgang Merkel: „Demokratie und Kapitalismus sind zwangsverheiratet“ - Interview mit Bascha Mika FR 14.1.2023
"[...] Der Kapitalismus lebt von ungleichen Eigentumsverhältnissen, die Demokratie von gleichen Staatsbürgerrechten und dem Ziel, das Allgemeinwohl zu verwirklichen. Der Kapitalismus ist also per se nicht demokratisch und die Demokratie per se nicht kapitalistisch ...
... deshalb können nicht nur Demokratien mit dem Kapitalismus koexistieren, sondern auch tief autokratische Systeme. In dem Zusammenhang haben wir nach 1989 ganz neue Formen des Kapitalismus kennengelernt – etwa in den postsowjetischen Staaten wie Russland und der Ukraine mit ihrem oligarchischen Kapitalismus. Die Politik überlässt ausgewählten Oligarchen einen bestimmten Raum, in dem sie frei operieren können. Das führt zu einer paradoxen Mischung aus Manchesterkapitalismus, wie Friedrich Engels es nannte, und staatlicher, außenwirtschaftlicher Regulierung. Im autokratischen Kapitalismus, den wir in China beobachten, ist das besonders ausgeprägt. [...]
Warum haben sich demokratische Staaten dem Neoliberalismus so willfährig ergeben?
Überspitzt würde ich sagen: Die demokratische Politik hat demokratisch entschieden, dass die Ökonomie nicht mehr demokratisch gesteuert wird. Die Demokratie hat sich damit selbst entmächtigt. Hintergrund war, dass das wohlfahrtsstaatliche Koexistenz-Modell von Demokratie und Kapitalismus gegen Ende der 1970er Jahre in schwere Wasser geraten ist. Stagnation verband sich mit Inflation. Diese Stagflation war der Sargnagel für die Koexistenz. Kein demokratischer Staat kann sich Null-Wachstum bei hoher Inflation lange leisten. [...]
Wenn man die Demokratie als zivilisatorischen Fortschritt betrachtet – was für den Kapitalismus ja so nicht gilt – warum sind dann alle bisherigen Demokratien kapitalistisch?
Weil zu einer Demokratie das Recht auf Eigentum gehört. Es ist eines der großen Freiheitsrechte, das nur schwer unterdrückt oder abgeschafft werden kann. Man kann Menschen nicht ohne Repression untersagen, initiativ und innovativ zu werden und Vermögen über wirtschaftliche Anstrengungen zu sammeln. Man kann zwar verstaatlichen und über Steuern die Gewinne sozialisieren. Doch alles andere bedürfte einer starken politischen Unterdrückung – was in einem demokratischen Rahmen nicht zu rechtfertigen ist. [...]
Die Demokratie muss sich nicht vom Kapitalismus verabschieden, um zu überleben?
Nein, das ist eine Zwangsverheiratung. Der Kapitalismus folgt zwar einem anderen Prinzip, aber die Demokratie ist auf den Kapitalismus angewiesen, auf seine Effizienz und Innovationskraft, sonst wird sie an Legitimität bei ihren eigenen Bürgerinnen und Bürgern verlieren. Der Kapitalismus braucht die Demokratie nicht, aber die Demokratie braucht den Kapitalismus. [...]"
Merkels Argumentation scheint in sich schlüssig. Doch er tut so, als gäbe es nur machtpolitische Fragen und der Klimawandel wäre politisch und wirtschaftlich irrelevant. Doch in Wirklichkeit kann die Menschheit ohne die Leistungen der Natur nicht überleben.
Es gilt schlicht: "Ohne Insekten würde unsere Welt zum Stillstand kommen. Sie kann ohne Insekten nicht funktionieren." (Thunberg: Das Klima-Buch, S.121) Das heißt: Ohne Lösung des gemeinsamen Klimaproblems werden Machtfragen irrelevant.
Daher lässt sich der Satz "Man kann Menschen nicht ohne Repression untersagen, [ohne Berücksichtigung des ökologischen Gleichgewichts!] initiativ und innovativ zu werden und Vermögen über wirtschaftliche Anstrengungen zu sammeln." nicht mehr von vornherein als Axiom setzen. John Lockes Rechtfertigung des Eigentums ging von Voraussetzungen aus, die so nicht mehr gelten.
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