Nach der Festnahme des Telegram-Chefs Pawel Durow hat die russische Botschaft in Paris das Vorgehen kritisiert. Die französische Justiz wirft dem Milliardär mit französischer und russischer Staatsbürgerschaft unzureichende Kooperation bei der Verfolgung schwerer Straftaten vor, die über Telegram koordiniert wurden. Europas Presse beleuchtet sehr unterschiedliche Aspekte des Falls.
Brüssel muss sich jetzt beweisen
Eine Bewährungsprobe für die EU sieht Le Monde:
„Der Fall erschüttert die Welt der digitalen Kommunikation, wo Sympathisanten von Pawel Durow, wie X-Chef Elon Musk, eine Verletzung der Meinungsfreiheit beklagen. Er ist auch ein wichtiger rechtlicher und politischer Test für die Europäische Union, die sich in den letzten Jahren als Vorkämpferin für die demokratische Regulierung digitaler Plattformen etabliert hat. Da die europäischen Länder besonders anfällig für Terrorismus und Desinformationskampagnen sind, die die Demokratien destabilisieren wollen, sind sie gezwungen, ihre Wachsamkeit zu erhöhen, ohne dabei die Rechtsstaatlichkeit zu gefährden.“
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Fast alles ist für den Betreiber sichtbar
IT-Fachmann Dan Bogdanov erklärt in Eesti Päevaleht:
„Telegram hat mehrere zehn Millionen Abonnenten in Russland und der Ukraine und ist eine sehr wichtige Informationsquelle zu dem laufenden Krieg. Dies geschieht über Chaträume mit Tausenden von Teilnehmern sowie über Kanäle, die die Nutzer abonnieren können. Man sollte über Telegram wissen, dass es weder für Chaträume noch für Kanäle eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung verwendet. Das heißt, dass alles – was gesagt wird und wer es sagt – für den Telegram-Dienstanbieter sichtbar ist und möglicherweise zur späteren Verwendung gespeichert wird. Kurz gesagt, Telegram präsentiert sich als sichere Chat-App, bietet diesen Dienst aber nur in Zwei-Wege-Gesprächen an, und auch nur dann, wenn die Benutzer ihn umständlich einschalten.“
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Regierungen haben Geduld verloren
Spotmedia hält diesen Schritt für richtig:
„Die Verhaftung des Telegram-Geschäftsführers ist eine beispiellose Aktion, die eine klare Botschaft an die Milliardäre aussendet, die die sozialen Netzwerke kontrollieren: dass die Regierungen ihre Geduld verloren haben. Rassistische Angriffe, Terrorismus, religiöser Radikalismus und verlogene politische Propaganda werden in den sozialen Netzwerken intensiv gefördert und unterstützt. Trotz wiederholter Rechtsverstöße gegen Gesetze, die die offene Gesellschaft regeln, sind die Verwalter digitaler Plattformen offenbar nicht willens oder nicht in der Lage, der Förderung von Hass, der Anstiftung zum Mord oder dem Betrug im Internet Einhalt zu gebieten.“
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Das freut die Autokraten
Die Online-Plattform ist in vielen Ländern eine von wenigen Alternativen zu staatlichen Propaganda-Kanälen, erklärt Kolumnist Hugo Rifkind in The Times:
„Telegram wird nicht nur von Russen genutzt, die Propaganda verbreiten, sondern auch von Russen, die diese umgehen wollen – und ebenso von Ukrainern. Im Nahen Osten erfreut sich der Dienst großer Beliebtheit, sowohl bei Menschen, die einem wohl sympathisch wären, als auch bei Menschen, die man eher meiden würde. Immer mehr genutzt wird Telegram auch in Indien, wo die Online-Zensur durch Premier Narendra Modi zunimmt. Werden sich die Regierungen von Ländern, die weit weniger frei sind als Frankreich, durch Durows Verhaftung ermutigt fühlen? Definitiv.“
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Durow kooperiert durchaus mit der Macht
Maria Pewtschich, Chefin des Nawalny-Netzwerkes FBK, widerspricht in einem von Echo übernommenen X-Post der These, Telegram hätte Geheimdiensten bisher pauschal einen Korb gegeben:
„Telegram und Durow arbeiten BEREITS perfekt mit den Behörden zusammen, wenn es um Politik geht (Löschung des Bots zum 'Klugen Wählen' und des Kanals der Ehefrauen der Mobilisierten [beide in Russland], Sperrung von RT im Ausland usw.). Und es ist schon seltsam, einen Kanal mit einer Liste registrierter Duma-Kandidaten zu sperren, aber nicht einen Kanal mit einer Liste aller existierenden harten Drogen, die innerhalb von 15 Minuten geliefert werden können. Telegram kennt und sieht diese Kanäle sehr gut (viel besser als wir), entscheidet aber, sie nicht zu blockieren. Mäßigen wir also den Eifer mit all den Argumenten über Durow, den Kämpfer.“
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Eine angemessene Balance finden
Der Philosoph und Publizist Artis Svece weist in Satori auf das notwendige Abwägen von im Konflikt miteinander stehenden Werten hin:
„Zunächst erscheint es überraschend, dass die Polizei des demokratischen, liberalen Frankreichs einen solchen Verteidiger der Meinungsfreiheit festnimmt, während Russland sich beeilt, ihn zu verteidigen. ... Es versteht sich von selbst, dass Informationsfreiheit nicht der einzige Wert der westlichen Gesellschaft ist und manchmal auch Werte miteinander in Konflikt geraten, etwa der Wunsch, Kinder zu schützen, und Kommunikation ohne Zensur. Die Frage ist, ob es uns Europäern immer gelingt, jene Balance zwischen den Werten zu finden, die das Leben in diesem Teil der Welt mit unserer Selbstachtung und einem beneidenswerten Vorbild für andere vereinbar machen.“
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