"[...] Weitgehend unbemerkt im Westen, von wo aus betrachtet China als bedrohliche Supermacht erscheint, die immer mächtiger, reicher und totalitärer wird, ist etwas in Bewegung geraten im Inneren der chinesischen Gesellschaft. Die Jungen machen nicht mehr mit. Sie ziehen sich zurück, steigen aus, sie verabschieden sich vom Wir und wenden sich dem Ich zu. Natürlich nicht alle; wie viele es sind, lässt sich nicht abschätzen. Fest steht: Die Hashtags und Foren im Internet, in denen es um das Flachliegen geht, wurden millionenfach geteilt und besucht. Für immer mehr junge, oft gebildete Chinesen ist Tangping das Lebensgefühl der Stunde. Und für die Staatsführung um Präsident Xi Jinping ist es eine Gefahr. [...]
Vor einem Jahr, im Frühjahr 2021, postete ein anderer junger Mann im Internet einen kurzen Essay. Luo Huazhong war ein Tausendsassa, der als Sicherheitsmann, Handwerker, Fabrikinspektor, Online-Händler und Leichenstatist beim Film gejobbt hatte. Zuletzt war er monatelang durch Tibet geradelt. Nun verwandelte er den unwahrscheinlichsten aller Begriffe in einen politischen Slogan. "Tangping ist Gerechtigkeit", verkündete Luo und schilderte, dass er inzwischen wieder in seinem Heimatdorf sei, wo er Hühner und Enten halte und von dem Gemüse aus seinem Garten lebe. "Tangping ist eine intellektuelle Bewegung", schrieb Luo und gab einem berühmten Satz des griechischen Philosophen Protagoras – "Der Mensch ist das Maß aller Dinge" – eine andere Wendung: "Nur liegend ist der Mensch das Maß aller Dinge." [...]
Die Behörden haben Online-Shops angewiesen, Poster und T-Shirts mit Tangping-Slogans
aus dem Verkehr zu ziehen. [...] Sogar Xi Jinping persönlich setzte sich in einem Aufsatz kritisch mit Tangping auseinander: "Ein glückliches Leben ist das Ergebnis harter Arbeit", mahnte der Staatspräsident.
Und dennoch. Luo Huazhong hat so viele junge Chinesen angesprochen, dass sich das
Flachliegen nicht aus der Welt schaffen ließ. [...] Statt seine Tage in einer Bürozelle zu
verbringen, gibt er Kurse in traditioneller chinesischer Literatur bei einem privaten
Kulturinstitut. Im Monat verdient er damit etwa 700 Euro, weniger als viele Putzfrauen in der
Stadt, was ihm aber nichts auszumachen scheint. Er hat sich selbst das Kochen beigebracht
und isst auswärts nur noch Nudelsuppen für zwei Euro, am Kiosk kauft er die billigsten
Zigaretten. [...] Die kritischen Stimmen sind nicht laut, man kann sie leicht überhören.
Aber sie sind da. [...]"
(Jugendbewegung in China: Revolte im Liegen von Xifan Yang, ZEIT online 12.4.22)
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