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Die Behauptung, etwas sei einzigartig und unvergleichbar, ist ein Denkverbot. Da soll etwas auf ein Podest gestellt und angeschaut, angebetet, aber auf keinen Fall soll es verstanden werden. Dazu muss man es mit ähnlichen Erscheinungen vergleichen, um festzustellen, wo sie differieren und wo sie gleich sind.
Der Historiker Timothy Snyder gehört zu den Unterzeichnern der Erklärung der kritischen Wissenschaftler. Zu seinem Forschungsbereich gehört der Vergleich zwischen den nationalsozialistischen und den stalinistischen Untaten. Seine Bücher haben durch den Vergleich jedes der Regime deutlicher herauspräpariert. Sie haben aber auch geholfen, eine Epoche genauer zu sehen, in der die Vernichtung ganzer Bevölkerungen zur selbstverständlichen Herrschaftspraxis sehr verschiedener Staaten wurde.
Die Vorstellung, der Holocaust stehe als ein einmaliger „Zivilisationsbruch“ einsam in der Weltgeschichte, müsste bewiesen werden. Natürlich unterscheidet er sich von all den anderen Versuchen, Bevölkerungen systematisch auszurotten. Allerdings nicht mehr als jene anderen Versuche, sich von einander unterscheiden. Der „Zivilisationsbruch“ begleitet die Zivilisation von ihren ersten Gehversuchen an. Sehr oft gehört er geradezu zu ihr. Der immense Aufschwung des Westens im 18. und 19. Jahrhundert ist ohne die systematische Knechtung und Versklavung großer Teile der Erdbevölkerung durch den Kolonialismus nicht zu denken. Ich glaube nicht, dass die Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen für irgendetwas in Kauf genommen werden muss. Ich glaube noch nicht einmal, dass sie nicht zu verhindern sei. Ich bin allerdings der Auffassung, dass es einiger Anstrengung bedarf, ihr, wenn sie just passiert, entgegenzutreten. Es ist gut zu begreifen, wie Kernreaktio
nen in Gesellschaften verlaufen, die dazu führen, dass die einen über die anderen herfallen." (Sind Holocaust-Vergleiche tabu? Alexandria Ocasio-Cortez löst Debatte in den USA aus v. Arno Widmann FR 9.7.19)
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