"Chebli symbolisiert heute das, was man identity politics nennt, eine angesagte, oft kritisierte Politik, bei der das eigene Ich im Mittelpunkt steht: Wie werde ich behandelt, als Schwarzer, Weißer, Mann, Frau, Homo-, Heterosexueller? Diese Fragen haben Cheblis Generation, sie ist Jahrgang 1978, und die ihr nachfolgenden an die Politik herangeführt. Doch für Chebli ging der Weg andersrum: Sie fing mit Politik an, die weit weg war von ihrer eigenen Geschichte. Als Studentin der Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin begann sie, für Bundestagsabgeordnete zu arbeiten, die sich mit außenpolitischen Themen befassten. Dann erschien 2010 das Buch ihres Genossen Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Aus Sicht vieler deutscher Muslime war das Buch ein Frontalangriff. Vielleicht ist es übertrieben zu sagen, dass es ohne Sarrazin heute keine Sawsan Chebli in der Politik gäbe. Doch er hat dazu beigetragen.
2010 wurde Chebli Grundsatzreferentin für interkulturelle Angelegenheiten beim Berliner SPD-Innensenator Ehrhart Körting. Er hatte 2005 das sogenannte Kopftuchverbot für Schulen mitverfasst. "Viele waren Sawsan gegenüber misstrauisch", sagt er heute. "Aber ich habe sie als jemanden erlebt, der sich für Religionstoleranz einsetzt." Chebli begann, öffentlich über ihre Biografie zu sprechen. Sie erzählte von ihrer Familie, ihrer Mutter, von der engen Wohnung in Moabit, wo sie auf dem Boden aßen und schliefen, von ihren Geschwistern, die als Staatenlose kein Gymnasium besuchen durften."
(Elisabeth Raether: Es liegt an den anderen, ZEIT 10.1.19)
Ich lese gegenwärtig Michelle Obamas Autobiographie. Auch sie spricht seit vielen Jahren von ihrer Herkunft und ihrer Familie.
Was ist anders?
Sie stammt von Sklaven ab, aber ist keine Geflüchtete.
Sie ist ehrgeizig und ist aufgestiegen. Aber sie wollte nie in die Politik.
Im Vergleich zu ihrem Mann verkörpert sie die traditionelle Frauenrolle: Die Kinder waren ihr das Wichtigste, sie hielt die Familie zusammen und sie verzichtete auf öffentliche Selbstverwirklichung, um keinen Ambitionen ihres Mannes im Weg zu stehen, auch wenn ihre Wunschvorstellung für ihr Leben mit dem geliebten Mann eine ganz andere gewesen wäre.
Michelle Obma bewegte sich sicher in der High Society und achtete darauf, dass auch ihr Mann gut angezogen war. Weshalb aber zeigt sie sich in ihrer Autobiographie als Person, die die Fürsorge für ihre Kinder, die Unterstützung für ihren Mann und ihre berufliche Selbstverwirklichung (als Fördererin von Benachteiligten) zu verbinden versuchte?
"Becoming me, becoming us, becoming more".
Warum verlangt die Öffentlichkeit von Frauen noch immer so viel Selbstzurücknahme, wo sie bei Männern ganz anderes akzeptiert?
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