Mittwoch, 2. Januar 2019

Clark: Von Zeit und Macht

"Wie die Schwerkraft das Licht, so beugt die Macht die Zeit." (Christopher Clark: Von Zeit und MachtS.9)

"Mich interessiert in erster Linie, wie diejenigen, die Macht ausübten, ihr Auftreten mit Argumenten und Verhaltensmustern rechtfertigten, die eine ganz spezifische temporale Signatur trugen." (S.12)

"In ihrem Jubel über den Sieg Donald Trumps glaubte Marine Le Pen, die Anführerin des damaligen Front National (der heute Rassemblement National heißt), zu erkennen, dass sich die Bevölkerung in den Vereinigten Staaten "ihre Zukunft zurückholt"; die Franzosen würden es ihnen nachmachen, prophezeite sie. Überlegungen zu der Frage, wie die Träger und Gestalter politischer Macht in einer kleinen Provinz der Vergangenheit ihre Politik verzeitlicht haben, werden kaum dazu beitragen, den zeitgenössischen Reiz solcher Manipulationen zu mindern, aber Sie können uns zumindest helfen, sie aufmerksamer zu lesen." (S.27)

Im ersten Kapitel ("Die Geschichtsmaschine" S.29-84) behandelt Clark den Gegensatz zwischen den Provinzen, die sich auf ihre traditionellen Rechte berufen, und der Zentrale des Großen Kurfürsten, der die Notwendigkeiten (necessitas) der staatlichen Selbstbehauptung dagegen anführt. - Mit den Jahren tritt die unmittelbare Not freilich zurück und necessitas wird zur Begründung einer dauerhaften Stärkung der Zentralgewalt angeführt.

"Als der Begriff "necessitas" radikaler angewendet wurde und sich von einem spontanen Argument für temporäre Angriffe zu einer allgemeinen Rechtfertigung für dauerhafte Instrumente der Zentralgewalt wandelte, [...] wurde er zugleich zeitlich erweitert. Er bezog sich immer weniger auf eine klare und akute Gefahr und immer stärker auf eine dauerhafte, vorausgreifende Haltung, einen Sicherheitsapparat, der auf künftige Eventualfälle ausgerichtet war.
Diese antizipatorische Haltung war keineswegs bloße Geste oder Rhetorik; ihr sich vertiefender Einfluss auf die Struktur der kurfürstlichen Verwaltung lässt sich bis in die Institutionen verfolgen, die er aufbaute. 
Das brandenburgische Feldheer wuchs dramatisch von 3000 Mann im Jahr 1641/42 über 8000 [...] schließlich auf 38 000 Mann in den Niederländischen Kriegen der 1670er Jahre." (S.52/53)

Im zweiten Kapitel ("Der Historiker-König") wird mir deutlich, dass Clark durchaus nicht behaupten will, dass das Zeitverständnis des Herrschers die objektive Situation verändere. Vielmehr deutet er an, dass nach der Niederwerfung des Adels die Rechtfertigung des Herrschers nicht mehr in der Vorbereitung auf den künftigen Wandel zu geschehen braucht, sondern, dass Friedrich II. eine Entdynamisierung der Zeit braucht, um die absolute Herrschaft des Staates als überzeitlich zu rechtfertigen, bei Vorgängen, die zyklisch verlaufend sich immer wiederholen. 

Aufgrund der neuen Machtbasis braucht Friedrich eine andere Selbstrechtfertigung. Das prägt seine "ganz spezifische temporale Signatur" (S.12).
Clark verweist darauf, dass Friedrich in seiner Brandenburgischen Geschichte die "Unterwerfung der Stände" (S.103), die im Mittelpunkt der Innenpolitik des Großen Kurfürsten stand, übergeht, indem er sie "in die Herrschaft Georg Wilhelms [...] insbesondere in die Amtszeit des mächtigen Ministers Graf Adam Schwarzenberg" (S.103) zurückdatiert. Und: "Während Pufendorf seine Biographie des Großen Kurfürsten als eine Geschichte von unvorhersehbaren Eventualitäten verfasst hatte, beharrte Friedrich darauf, dass Geschichte das Wirken bestimmter unabänderlicher und universeller Gesetze verkörpere." (S.111)
Das Statische der Geschichtsauffassung Friedrichs sieht Clark auch darin bestätigt, dass dieser eine "Wahlverwandtschaft mit dem alten Rom" (S.123) empfunden habe, was "eine Geschichtlichkeit, die analog und rekursiv statt linear und entwicklungsorientiert war" (S.123) impliziere. 
[Ich persönlich habe den Eindruck, dass Clark dabei den Blick zu sehr auf den Friedrich des Behauptungskampfes im Siebenjährigen Krieges (und der Herrschaftskonsolidierung danach) konzentriert und den Eroberer, der mit seinem Angriffskrieg künstlich eine "necessitas" herbeiführte, um wie der Große Kurfürst eine Rechtfertigung für sein überdimensioniertes Heer zu haben. Doch stimme ich mit ihm überein, dass Friedrich "sich eher mit der fernen als mit der jüngsten Vergangenheit assoziierte", um sich von seinem Vater zu distanzieren. 
Dass Friedrich, der im Unterschied zum Großen Kurfürsten "häufig auf 'den Staat'" (Clark, S.88) verwies und seine brandenburgische Geschichte nach eigenem Bekunden schrieb, um "die staatliche Existenz Preußens" zu bestimmen, "sich von der staatlichen Struktur distanzierte, die sein Vater errichtet hatte" (Clark, S.128) ist für mich auch nicht ohne weiteres nachvollziehbar. ]

Im dritten Kapitel "Steuermann im Strom der Zeit" stellt Clark heraus, dass Bismarck "weder Historiker noch Geschichtsphilosoph" (S.135) doch im Gegensatz zu manchen seiner konservativen Gesinnungsgenossen ein Verständnis von Geschichtlichkeit hatte, wonach Geschichte "einen allumfassenden und unumkehrbaren Prozess des Wandels bezeichnete" (S.134) und insofern Hegels Geschichtsverständnis sehr nahe kam, obwohl er mit dessen Schriften nach eigenem Bekunden nichts anfangen konnte. 
Deshalb waren für ihn "die durch die Revolution von 1848 herbeigeführten Veränderungen unumkehrbar" (S.146), obwohl er während der Revolution ein scharfer Gegner der demokratischen Kräfte war und die zeitweisen Zugeständnisse Friedrich Wilhelms IV. scharf ablehnte.  Dass dies für ihn vereinbar war, lag daran, dass für ihn "der monarchische Staat [...] die Identität und Kontinuität des Gemeinwesens" (S136) trotz der Veränderungen sicherstellte.
Ja, "Er erkannte sein Leben lang an, dass die Revolution die notwendige Bedingung war, auf der seine eigene Karriere im öffentlichen Leben gründete." (S.153) Denn nur das Ende der absoluten Herrschaft des Königs ermöglichte ihm sich "als einzigartig geschickten Interpreten des historischen Moments zum Handeln" (S.166) zu präsentieren. 
Dies Verständnis Bismarcks erscheint mir völlig überzeugend. Freilich entspricht es auch dem seit Jahrzehnten gängigen Geschichtsverständnis. 

Neu und einleuchtend ist mir aber, wie Clark die Unterschiede des Geschichtsverständnisses zwischen den italienischen Faschisten und den Nationalsozialisten herausarbeitet:
Besonders in Preußen, aber auch im Deutschen Reich ab 1871 war die Vorstellung von Geschichte eng mit dem Staat verbunden. Deshalb kam es zu einer "Krise im 'historischen Denken' " und dazu, dass der Zusammenbruch des Kaiserreichs  "das Vertrauen in die 'eigentlichen Grundlagen des Geschichtsbegriffs' untergrub." (S.183)
Friedrich Meinecke meinte, es käme vielleicht zu einer "tausendjährigen Ära der anglo-amerikanischen Vorherrschaft" mit der Folge, "dass die deutsche Geschichte einfach vorbei sei." (S.183)
Die "Krise des Historismus" war freilich nicht nur ein deutsches Problem. "Das besondere am deutschen Fall war die Tiefe der Revolte und die Tatsache, dass das einflussreichste Subjekt dieses Aufstands keine Einzelperson, sondern ein Regime mit immenser Macht sein sollte." (S.187): der Nationalsozialismus.

Im vierten Kapitel "Die Zeit der Nationalsozialisten" legt Clark dar, dass es dem NS-Regime nicht wie den italienischen Faschisten darum ging, eine neue revolutionäre Zeit schneller grundlegender Veränderungen, eine "Art Turbo-Hegelianismus" (S.204) auszurufen. Vielmehr sei es dem NS-Regime darum gegangen "Geschichte ganz zu meiden, ihr in ein rassistisch definiertes Zeitkontinuum des transhistorischen Gedenkens zu entfliehen." (S.206)
"[...] das Regime der Nationalsozialisten verankerte sich überhaupt nicht im Entwicklungs- und Fortschrittsnarrativ der 'Geschichte', sondern in der nichtlinearen Zeit des völkischen Daseins." (S.231) 
Plakativ gesagt: Die Germanen als direkte Vorfahren der Nationalsozialisten.

Die Vorstellung, dass man sich aus der Geschichte das heraussuchen könne, was einem passt, führte zu so grotesken Aussagen wie die von Goebbels, der am 1.4.1933 erklärte "das Jahr 1789" sei "aus der Geschichte gestrichen" (S.225) oder dem folgenden ernsthaften Versuch: "Die jüngste politische Geschichte Weimars sollte in astronomische Ferne  rücken, die tausendjährigen Vorläufer des neuen Regimes hingegen - seien es die griechische und römische Antike oder die lange nebulöse Geschichte der germanischen Besiedlung Mittel- und Nordeuropas oder beides - wirkten sehr nah (oder sollten es zumindest)." (S.212)


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