Mittwoch, 4. Mai 2022

Stephan Hebel: Was braucht es für eine europäische Friedensordnung?

"Zerstört der russische Präsident mit dem Krieg in der Ukraine die europäische Friedensordnung? Und was verbirgt sich hinter diesem Begriff? Außerdem eröffnet ein offener Brief an den Kanzler eine überfällige Debatte. Die 14-Tage-Bilanz 
Europäische Friedensordnung: Am Sonntag jährt sich zum 77. Mal der Tag, an dem der Sieg der Alliierten den Zweiten Weltkrieg und die Nazi-Herrschaft beendete. 77 Jahre, das ist praktisch ein ganzes Menschenalter, und zumindest Mitteleuropa hatte in dieser Zeit das Glück, „in Frieden zu leben“, wie das immer so schön heißt. Weder in der prekären Stabilität des nuklearen Gleichgewichts bis 1989 noch in den Neunzigern, als im ehemaligen Jugoslawien die ersten europäischen Kriege seit 1945 tobten, war die Furcht vor einer Eskalation bis hin zum Atomkrieg auch nur annähernd so groß wie jetzt. [...]

Hebel meint: Sollten wir nicht mal fragen, ob es sich bei dem, was Putin zu zerstören versucht, wirklich um eine „europäische Friedensordnung“ handelt? [...] Schon im Jahr 1999 stellte der Friedensforscher Dieter S. Lutz fest: „Eine europäische Friedens- und Sicherheitsordnung existiert nicht. Weder gibt es eine Friedensordnung, welche die Bezeichnung ,europäisch‘ verdient. Noch gibt es eine Ordnung Europas, welcher der Name ,Friedens‘-Ordnung gebührt.“ [...]

Ist es Wortklauberei, darauf hinzuweisen? Nein, das ist es nicht. Wer den Glauben an eine gestaltbare Zukunft nicht aufgeben will – und wer das täte, wäre in der Politik schlecht aufgehoben –, sollte schon bei der Wortwahl gewissenhaft sein. Der Zustand, der bis zum 24. Februar 2022 oder zumindest bis zur Annexion der Krim durch Moskau herrschte, lässt sich allenfalls als mühsam eingehegte Konfrontation beschreiben. Wer ihn „Friedensordnung“ nennt, legt die Vermutung nahe, diesen Zustand wiederherstellen zu wollen. Und das kann ja wohl nicht das Ziel sein. [...]

Wer den – notwendigen – Kampf gegen Putin führe, ohne seine möglichen Reaktionen, so gut es eben geht, ins Kalkül zu ziehen, beraube sich eines Teils der Rationalität, mit der wir uns gerade von der Irrationalität des Angreifers unterscheiden wollten. So jedenfalls lässt sich der Tenor des Briefes verstehen.

Es ist gut, dass diese Gegenposition nun „auf dem Markt“ ist. Es ist allerdings bitter, dass die Autorinnen und Autoren des vieldiskutierten Briefes die eigene Argumentation schwächen, indem sie unbedacht formulieren: Zum einen nähren sie den Verdacht zu glauben, dass es der ukrainischen Bevölkerung unter russischer Herrschaft besser ginge als im Widerstand – und dass darüber nicht die Ukraine allein zu entscheiden habe. Zweitens warnen sie in allzu platter Form davor, Putin „sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln zu liefern“. Nein, seine Motive hat dieser Verächter des Völkerrechts schon selbst, niemand muss sie ihm „liefern“. Sehr wohl aber ginge es darum, unermüdlich nach allen – nicht nur militärischen – Mitteln zu suchen, mit denen sich der Unberechenbare vielleicht doch beeinflussen ließe. Das zu fordern, hätte den Vorstoß wirklich überzeugend gemacht.

Aber die Debatte ist eröffnet. Und die Hoffnung, dass die Weisheit der vielen sie noch ins richtige Maß bringt, darf in einer Demokratie nie und nimmer aufgegeben werden."

(Frankfurter Rundschau 4.5.2022)


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