Montag, 29. April 2024

Was über Stuttgart 21 weiterhin verschwiegen wird, aber bekannt werden sollte

"Bei einem Brand könnten die Tunnel von Stuttgart 21 für Tausende Menschen zur Todesfalle werden. Darauf weisen Kritiker seit vielen Jahren hin – vergeblich. Die Verantwortlichen mauern, vertuschen, täuschen und verschleudern Unsummen mit juristischen Spiegelfechtereien. Das Projekt sei aus Kostengründen gemeingefährlich, findet Dieter Reicherter vom Aktionsbündnis gegen S21. 

Die Prüfer prüften nicht richtig, keiner prüfe die Prüfer und die Justiz verschanze sich hinter Paragraphen, beklagt der ehemalige Richter im Interview mit den NachDenkSeiten. Dabei schreckten im Katastrophenfall selbst die Retter vor einem Einsatz zurück. Mit ihm sprach Ralf Wurzbacher.

Zur Person

Dieter Reicherter, Jahrgang 1947, war bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2010 an verschiedenen Stationen in Baden-Württemberg als Staatsanwalt und Richter tätig, zuletzt war er Vorsitzender Richter am Landgericht Stuttgart. Unter dem Eindruck eines brutalen Polizeieinsatzes bei einer Demonstration gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 im Herbst 2010 trat er dem Widerstand gegen S21 bei und ist heute Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21.

Herr Reicherter, vor knapp zwei Wochen hat die Deutsche Bahn (DB), in Gestalt der DB Projekt Stuttgart–Ulm GmbH (PSU), einen juristischen Sieg davongetragen. Das Verwaltungsgericht Stuttgart gab deren Klage gegen die von der Gegenseite verlangte Zwangsvollstreckung zur Freigabe einer Entfluchtungssimulation bezüglich eines Unglücksfalls im Fildertunnel – dem mit neun Kilometern längsten Zulauf zum künftigen Stuttgarter Tiefbahnhof – statt. Die Ingenieure22, eine dem Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 nahestehende Gruppe projektkritischer Fachleute unterschiedlichster Disziplinen, hatten fast acht Jahre lang vor Gericht um deren Herausgabe gekämpft. Man könnte sagen, das war für die Katz, weil das begehrte Material gar nicht existiert beziehungsweise nicht mehr. Deshalb auch der Richterspruch zugunsten der Bahn. Was ist da schiefgelaufen?

Die PSU selbst hatte die Simulationen nie und die von ihr beauftragte Schweizer Firma Gruner AG hatte sie mit ihrer Zustimmung schon gelöscht, bevor die Ingenieure22 überhaupt einen Antrag auf Einsichtnahme gestellt hatten. Wer nichts hat, kann nichts zeigen und muss nach dem Umweltinformationsgesetz die Einsichtnahme mit dieser Begründung ablehnen. Dagegen hat die PSU verstoßen und sinnlose Prozesse verursacht.

Was hat es mit dieser Simulation auf sich?

Nach den einschlägigen Vorschriften hätte die Bahn schon im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens nachweisen müssen, dass sie für die Evakuierung in den Tunnelröhren ein taugliches Rettungskonzept hat. Im Arbeitskreis Brandschutz, dem außer der Bahn das Regierungspräsidium Stuttgart und die Stuttgarter Feuerwehr angehören, geht es um solche Fragen. Dort berichtete die PSU am 22. Januar 2014, Simulationen der Firma Gruner hätten die Berechnungen der Bahn bestätigt. Demnach könnten 1.757 Menschen aus einem vollbesetzten Zug im Notfall in circa elf Minuten aus einer Tunnelröhre evakuiert werden. Tatsächlich gab es diese Simulationen noch gar nicht. Die Computerdurchläufe zogen sich bis März 2014 hin und der Bericht mit der Auswertung wurde erst Ende Juni 2014 fertiggestellt.

Allerdings wollte PSU nicht mit den Ergebnissen herausrücken, was schließlich jahrelang die Gerichte beschäftigte (siehe dazu NDS-Beitrag „Tunnel-Schummel“ vom 4. Februar 2022). Wie hat die Bahn ihr Vorgehen begründet?

Wie in allen derartigen Verfahren kam das Argument, eine Einsichtnahme gefährde die Sicherheit von Bahnanlagen. Dies wurde vor Gericht vertieft mit ausführlichen Darstellungen zu Terroranschlägen. Vereinfacht gesagt wurde unterstellt, die Ingenieure22 könnten Erkenntnisse an Terroristen weitergeben. Und immer ging es vornehmlich um Brände. Das alles lag total daneben, weil die PSU die ganzen Jahre gar keine Simulationen hatte. Mit ihren falschen Behauptungen hat sie jahrelang Richterinnen und Richter getäuscht. Das ging so weit, dass sie sich sogar beim Verwaltungsgerichtshof im Dezember 2019 verpflichtete, endlich Einsicht zu gewähren, und danach vier Jahre fälschlich behauptete, den Vergleich erfüllt zu haben. Die jetzige Klärung war für sie ein Pyrrhussieg, denn die Glaubwürdigkeit der Bahn ist dahin. Zudem hat sie selbst bewiesen, keinerlei Nachweise für eine erfolgreiche Evakuierung zu haben. Offenbar diente der falsche Prozessvortrag der Vertuschung.

Das alles nährt natürlich den Verdacht, die Simulation könnte die behaupteten Ergebnisse gar nicht geliefert haben, weshalb man sie der Öffentlichkeit auch nicht zumuten wollte. Woran machen Sie das fest?

Da wir die Simulationen nie zu Gesicht bekommen haben, kann man lediglich aufgrund des Berichts vom Juni 2014, in dem einige Parameter angegeben sind, Rückschlüsse ziehen. Demnach hat man unter anderem die Gehgeschwindigkeit der Flüchtenden zu schnell angesetzt und Mobilitätseingeschränkte, die auf den schmalen Rettungswegen nicht überholt werden können, nicht berücksichtigt. Realistische Parameter führen zum Ergebnis, dass sich bei schneller Rauchausbreitung die meisten Betroffenen nicht retten können und den Tod finden. 

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 Ein Artikel von Ralf Wurzbacher 

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