Dienstag, 19. September 2023

Harald Martenstein über Jugendsünden

"[...] Wenn nun irgendwer käme und mich mit einer Ungeheuerlichkeit von damals konfrontierte, etwa mit so was wie dem Satz "Konterrevolutionäre gehören an die Wand gestellt", den ich angeblich auf einem Flugblatt geschrieben hätte, was würde ich tun?

Vermutlich würde ich erst mal alles abstreiten, und zwar guten Gewissens. So denke ich nicht mehr, seit ich denken kann. Falls die Belege eindeutig sind, würde ich mich distanzieren, was sonst. Aber die vielleicht von mir geforderte Zerknirschung könnte ich nur als Schauspiel darbieten, so richtig fühlen könnte ich sie nicht. Nachdem du dich längst innerlich distanziert hast von dir und seit Jahren das Gegenteil sagst, kannst du die Uhr schwer zurückdrehen und plötzlich frisch empört sein.

Ich könnte auch nicht den Jungen von damals unter dem Jubel des Publikums mit Dreck bewerfen. Er wusste es nicht besser, böse war er nicht. Er wollte halt dazugehören. Ich bin immer noch dieser Junge und gleichzeitig längst ein anderer. Im Laufe des Lebens verschwindet manchmal ein Ich und wird zur Erinnerung an dieses frühere Ich. [...]

Im Übrigen ist das Leben ein Langstreckenlauf. Es ist nicht so wichtig, wie du vom Startblock wegkommst, wichtiger ist, mit welcher Haltung du auf die Zielgerade einbiegst."

ZEIT-Magazin 13.9.23


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