Donnerstag, 20. August 2020

euro|topics: Cancel Culture: Problem oder Gespenst?


In Debatten taucht in letzter Zeit verstärkt der Begriff der "Cancel Culture" auf. Mit dem Ausdruck soll eine systematische Rufschädigung von Personen kritisiert werden, die unliebsame Positionen äußern würden - und damit eine Gefährdung der Meinungsfreiheit. Während einige Kommentatoren verheerende Auswirkungen der "Cancel Culture" fürchten, stellen andere infrage, dass es sie tatsächlich gibt.
DAILY EXPRESS (GB)

Keiner traut sich mehr, offen zu reden

Die Auswirkungen der "Cancel Culture" auf die zwischenmenschlichen Beziehungen sind desaströs, klagt Daily Express:
„Die 'Cancel Culture' wurzelt in etwas Positivem, nämlich in dem Ziel, die Verbreitung von Hass zu verhindern. Doch es sind nicht nur die Verbreiter von Hass, die davon betroffen sind. Die Unsicheren, die Neugierigen und diejenigen, die wachsen, lernen und sich mit anderen verbinden wollen, werden ebenfalls unterdrückt. Indem wir versuchen, die Ausbreitung von Hass durch Zensur zu stoppen, zerstören wir auch die Fähigkeit der Menschen, offen zu kommunizieren, zu lernen und zu wachsen, ohne Angst zu haben, etwas Falsches zu sagen. Ohne diese Freiheiten wird die Möglichkeit der Menschen, auf natürliche Weise mit anderen eine Beziehung aufzubauen, weiter schwinden - und unsere Fähigkeit, als Menschen mitzuwachsen, ebenso.“
Katy Moran
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CORRIERE DELLA SERA (IT)

Wie eine Minderheit sich durchsetzt

Corriere della Sera fürchtet das Aufkommen eines neuen Anpassertums:
„Wenn es einer Minderheit gelingt, sich durchzusetzen und eine viel größere Gruppe von Menschen mitzuziehen, wird ein neuer Konformismus etabliert. Es ist von entscheidender Bedeutung zu verstehen, aus wem diese 'schweigende Mehrheit' besteht. ... Sie besteht im Wesentlichen aus Chamäleons und Unterwürfigen. Chamäleons sind diejenigen, die sich für jede neue Idee einsetzen, egal welche es ist. … Die Unterwürfigen hingegen haben Angst, von ihren Freunden, von denen, die (scheinbar) begeisterte Befürworter der neuen Ideen sind, missbilligt und an den Rand gedrängt zu werden. Chamäleons und Unterwürfige bilden zusammen die Truppe, die von den Generälen (der bestimmenden Minderheit) manövriert wird. Dank ihnen etabliert sich ein neuer Konformismus.“
Angelo Panebianco
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LE MONDE (FR)

Der Zweck heiligt nicht alle Mittel

Die Soziologin Nathalie Heinich appelliert in Le Monde an die Linke, bei "Cancel Culture" nicht mitzumachen:
„Man kann sich nicht damit zufriedengeben, die Exzesse dieser radikalen Aktivisten zu verurteilen und gleichzeitig zu suggerieren, dass der Zweck trotz allem die Mittel heiligt. Die einzig gültige Frage muss mit Nachdruck gestellt werden: Welche Legitimität und Rechtmäßigkeit haben die von den neuen Zensoren verwendeten Methoden? Sonst droht die Linke erneut totalitären Versuchungen zu verfallen, die vom Revolutionsterror bis zu Stalins Gräueltaten ihre Geschichte verdunkelt haben. Sonst leben wir nicht mehr in Rechtsstaat und Demokratie, sondern in dem, was einst der Dorftratsch hervorbrachte und nun in den sozialen Netzwerke genauso stattfindet: unwiderrufliche, erbarmungslose und ausweglose soziale Kontrolle.“
Nathalie Heinich
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TAGES-ANZEIGER (CH)

Die Angst der rechtskonservativen Publizisten

Warum der Verlust der Meinungsfreiheit beklagt wird, erläutert der Tages-Anzeiger:
„Weil einige offensichtlich ein Problem damit haben, dass es Gegenwind gibt. Gemeint sind damit nicht die linken Aktivisten, denen oftmals vorgeworfen wird, sie seien so verweichlicht, dass sie sich als Opfer von allem gebärdeten … . Ein Problem haben vielmehr die zahlreichen rechtskonservativen Publizisten gesetzteren Alters ... - wenn auch aus strategischen Gründen: weil sie ein Problem damit haben, dass im Netz Öffentlichkeiten entstanden sind, gegen die sich ehrlicherweise nur wenig sagen lässt, die aber den eigenen Machtanspruch in Sachen Meinungsbildung unterlaufen. Deshalb beschwören sie das Schreckgespenst der Cancel Culture: um sich als heroische Verteidiger und zugleich erste Opfer eines vermeintlichen Extremismus zu gebärden.“
Andreas Tobler
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