"[...] Im Vergleich zur stabilen industriellen Moderne der Nachkriegszeit findet in der Spätmoderne insgesamt ein Dynamisierungs- und Mobilisierungsschub statt, eine deregulierte globale Zirkulation von Waren, Menschen, Zeichen und Informationen. Die Spätmoderne ist in vieler Hinsicht eine radikalisierte Moderne. Ihr entsprach seit den 1980er-Jahren auch eine Regierungspolitik, welche diese Dynamisierung gefördert hat: Der Neoliberalismus des Wettbewerbs, aber auch der progressive Liberalismus der subjektiven Rechte haben die Deregulierung und Entgrenzung von Ökonomie und Individuen forciert. [...]
Es ergeben sich nicht nur erfreuliche Resultate – Freiheits-, Konsum- und Mobilitätsgewinne –, sondern auch problematische: verschärfte soziale Ungleichheit, kulturelle Desintegration, psychische Frustrationen, Vernachlässigung öffentlicher Güter, Marktüberhitzungen und verstärkte ökologische Gefährdungen. Insbesondere seit der Finanzkrise und dem Aufstieg des Populismus wird die Öffentlichkeit sich der Kosten des Wandels bewusst. War in den 1990er- und 2000er-Jahren ein optimistischer Fortschrittsdiskurs dominant, hat sich dieser in den westlichen Gesellschaften nahezu komplett ins Gegenteil gekehrt, nämlich in eine Fortschrittsskepsis, die bis hin zu Untergangsszenarios reicht. Politische Protestbewegungen wie die Gelbwesten oder Fridays for Future sind Träger dieser Kritik. [...]
Ohne die Krise der Spätmoderne, die seit den 2010er-Jahren ins Bewusstsein rückt, wäre das Coronavirus wohl nur eine banale Pandemie – eine menschliche Tragödie, aber ohne intellektuellen oder politischen Nährwert. Im Rahmen der ohnehin schon verbreiteten Desillusionierung kann das Virus jedoch als Menetekel einer Moderne in der Sackgasse und als Chance für einen gesellschaftlichen Neubeginn gedeutet und dramatisiert werden. [...]
Bei aller Unterschiedlichkeit laufen die drei großen Krisen der Spätmoderne – 9/11, die Finanzkrise und die Corona-Krise – darauf hinaus, dass eine Neujustierung der Aufgaben von Staatlichkeit dringlich wird. Während sich in den 1980er-Jahren das Staatsmodell vom Wohlfahrtsstaat zum "Wettbewerbsstaat" (Bob Jessop) gewandelt hat, geht es nun darum, einen Infrastrukturstaat und einen resilienten Staat zu erschaffen. Infrastrukturstaat heißt: eine Staatlichkeit, die die Qualität basaler öffentlicher Güter und Einrichtungen – Gesundheit, Bildung, Wohnen, Verkehr, Energie – sichert. Resilienter Staat heißt: eine Staatlichkeit, die für permanente Gefährdungen – Pandemien, digitale Crashs, Terror, Hasskriminalität, Klimawandel – Vorsorge schafft und so auch für Katastrophenfälle gewappnet ist. [...]"
Andreas Reckwitz: "Verblendet vom Augenblick" (Zu einem neuen Verständnis des Staates) ZEIT 9.6.20
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