Montag, 18. Dezember 2023

Politologin Seyla Benhabib über Stellungnahmen im Nahostkonflikt

„Wir sind in einer Sackgasse, und es scheint keinen Ausweg zu geben“ 

FR, 17.12.2023

"[...] In Ländern wie Frankreich, wo es immer einen tief verwurzelten Antisemitismus gab, zum Beispiel bei der Action Française, sehen wir plötzlich, dass Marine Le Pen den Staat Israel verteidigt und sich gegen Antisemitismus positioniert. [...]

Diese Tendenzen sind eher in Deutschland und Frankreich zu beobachten, wo muslimische Gemeinschaften oder Einwanderer unter Druck gesetzt werden und nun bestimmte Prinzipien, wie das Existenzrecht Israels, anerkennen sollen. Dies geht oft mit Formen der Islamophobie einher.

Sie haben einen Brief an Ihre Freunde geschrieben als Reaktion auf den Aufruf „Philosophy for Palestine“. Nancy Fraser und Judith Butler haben diesen Aufruf unterzeichnet. Würden Sie behaupten, dass beide antisemitisch sind oder antisemitische Positionen vertreten?

Nein, keineswegs! Beide sind liebe Kolleginnen und beide sind Jüdinnen. Es ist vollkommen unsinnig, ihnen Antisemitismus vorzuwerfen. Dennoch halte ich den Aufruf für problematisch. Was mich daran störte und immer noch stört, ist, dass der Text so interpretiert werden kann, als wäre er eine Verteidigung der führenden Rolle der Hamas im palästinensischen Freiheitskampf. Ich glaube, die Unterzeichnenden haben nicht erkannt, wie unterschiedlich einzelne Passagen interpretiert werden können. [...] 

In den USA wird viel über Antisemitismus an den Universitäten diskutiert. Wie erleben Sie das?

Erstens stammen viele Studierende in den USA aus dem globalen Süden, sie haben indische, pakistanische, lateinamerikanische Wurzeln oder kommen aus dem Nahen Osten. Der Anteil der europäischen oder nordamerikanischen Studierenden ist zurückgegangen. Dies ist ein Wandel. Für diese Studierenden erscheint der Konflikt zwischen der Hamas und Israel wie das Duell zwischen David und Goliath. Israel wird als ein hoch bewaffneter Staat mit atomarem Potenzial wahrgenommen, der gegen eine scheinbar wehrlose Bevölkerung kämpft. Für meine Generation, die den Holocaust als Erinnerung hat, ist dies kaum vorstellbar. Doch für viele der heutigen Studierenden ist es eine Realität. Sie sehen Israels Politik als Fortsetzung der kolonialen Siedlerbewegung und vergleichen sie mit den Ungerechtigkeiten, die der globale Süden durch den globalen Norden erfahren hat. Dies erklärt ihre Denkmuster. 

Ich bin mir nicht sicher, ob sie die Geografie wirklich verstehen, wenn sie den Slogan „From the river to the sea, Palestine must be free“ rufen. Wissen sie, welcher Fluss gemeint ist? Ich mache ihnen keinen Vorwurf. [...]

Ich versuche, die postkoloniale Kritik ernst zu nehmen, ohne jedoch diese vereinfachende Geschichtsinterpretation zu akzeptieren. In dieser Hinsicht unterscheidet sich meine Position etwas von der meiner geschätzten Kollegin Susan Neiman. Die postkoloniale Kritik wurde zunächst von indischen Intellektuellen wie Homi Bhabha und Dipesh Chakrabarty am westlichen Liberalismus geäußert. Sie ist ein bedeutender intellektueller Beitrag. Es gibt Ansätze darin, die ernst genommen werden müssen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass man dem Relativismus oder Kontextualismus folgen sollte. Ich betrachte mich immer noch als Schülerin von Jürgen Habermas, aber ich bin offen dafür, zu sehen, was diese Denkrichtungen zu bieten haben. Diese intellektuelle Strömung muss jedoch von politischen Erklärungen unterschieden werden, was nicht immer einfach ist. Dennoch lehne ich nicht alles ab, was in dieser Kritik enthalten ist.

An mehr als 70 Universitäten in den USA gibt es Untersuchungskommissionen, die antisemitische Positionen und auch Handlungen prüfen sollen. Hinter diesen Bemühungen stehen vor allem Republikaner. Handelt es sich um eine gezielte politische Aktion?

Dies ist eine äußerst besorgniserregende Entwicklung. Man kann sich fragen, ob dies eine neue Form des McCarthyismus darstellt. Die politische Rechte hat nun einen Weg gefunden, um an Universitäten Einfluss zu nehmen. Dies ist das Schlimmste, was passieren konnte. [...] 

Ich habe die Erklärung von Klaus Günter, Nicole Deitelhoff, Rainer Forst und Jürgen Habermas gelesen. Hierbei handelt es sich um rechtliche und moralische Fragen. Ich glaube, diejenigen, die Israel Völkermord vorwerfen, gehen zu vorschnell vor. Juristisch betrachtet kann man dies nicht als Völkermord bezeichnen. Dennoch gibt es zweifellos genozidale Ambitionen auf Seiten Israels. Einige Äußerungen israelischer Amtsträger, wie die eines israelischen Kommandanten, der sagte, man wolle Gaza von diesen „Tieren“ befreien, halte ich für äußerst gefährlich. Hier liegt eine sehr hohe Beweislast. [...]

Aus moralischer Sicht glaube ich, dass die Arbeiten von Genozidforschern wie Omer Bartov hier sehr hilfreich sind. Bartov und andere argumentieren, dass das, was in Gaza geschieht, ethnische Säuberung ist. Dies war in der Geschichte oft Vorläufer von Völkermorden, und es könnte auch diesmal der Fall sein. In dieser Hinsicht müssen wir äußerst vorsichtig sein. [...] Die humanitäre Situation der Palästinenser ist katastrophal. Ob das mit dem Recht eines Staates auf Selbstverteidigung, wie es Israel auslegt, in Einklang steht, ist eine offene Frage. [...]"

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