Monatelang beeindruckte die ukrainische Gesellschaft durch scheinbar ungebrochene Geschlossenheit im Kampf gegen die russischen Invasoren. Nun aber kommen innenpolitische Spannungen verstärkt zum Vorschein. Kyjiws Bürgermeister Klitschko kritisierte Präsident Selenskyj ungewöhnlich scharf. Frauen von Soldaten protestieren und fordern für ihre Männer Urlaub von der Front. Kommentatoren beleuchten den Wandel.
Eine beunruhigende Lage
Der Journalist Pawlo Kasarin äußert sich in Ukrajinska Prawda besorgt über das politische Klima:
„Manchmal hat man das Gefühl, als würde das Land in einem nicht offiziell erklärten Wahlkampf leben. Vom Parlament verabschiedete unpopuläre Beschlüsse warten immer noch auf die Unterschrift des Präsidenten. Vertreter der Regierungspartei werfen dem Oberbefehlshaber [Walerij Saluschnyj] öffentlich vor, politische Ambitionen zu haben. Die Opposition kritisiert die Regierung dafür, dass ihren Abgeordneten diplomatische Reisen verweigert werden. Das alles lässt darauf schließen, dass die ukrainischen Politiker weiterhin in Erwartung von Wahlen leben – obwohl der Präsident versprach, dass sie während des Krieges nicht abgehalten würden. Und das ist eine sehr beunruhigende Situation.“
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Alte Fehden werden fortgesetzt
Kyjiws Bürgermeister Vitali Klitschko hat Selenskyj mit scharfen Worten kritisiert. La Stampa überrascht das nicht:
„Die Entourage des 'Dieners des Volkes' [Selenskyj] hat den Bürgermeister davor gewarnt, sich bei ausländischen Zeitungen zu beschweren, und ihn aufgefordert, einfach seinen Job zu machen. Die beiden können sich nicht leiden, seit Selenskyj vor vier Jahren sein Amt antrat und bei den Wahlen seinen Vorgänger Petro Poroschenko, den jetzigen Unterstützer Klitschkos, besiegte. ... Mit dem Krieg schuf die Regierung eine Militärverwaltung der Gemeinden (Rda) parallel zur normalen Verwaltung und unterstellte sie ihrer Kontrolle. Von da an begann ein Spiel mit Schuldzuweisungen und Verdächtigungen zwischen dem Zentrum und der Peripherie.“
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Poroschenko wohl keine wirkliche Bedrohung
Nachdem ukrainische Grenzbeamte den früheren ukrainischen Präsidenten Poroschenko an der Ausreise gehindert haben, rätselt 444.hu über die Hintergründe:
„Warum Petro Poroschenko Viktor Orbán treffen wollte, wissen wir bislang nicht ... Es ist auch fraglich, ob dieses neue Kapitel im Krieg zwischen Selenskyj und Poroschenko eine tatsächliche Bedeutung für die Zukunft der Ukraine hat. Aber es scheint wahrscheinlich zu sein, dass die Verhinderung der Reise nicht unabhängig von den Ambitionen des ersten Mannes im Staat und dessen Gefühl der wachsenden persönlichen Bedrohung ist. ... Doch was auch immer Poroschenko versucht, er ist nicht die Person, von der die vom Auf und Ab des Krieges scheinbar ermüdeten Ukrainer Erlösung erhoffen würden.“
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Selenskyjs Gegner sind wieder da
Radio-Kommersant-FM-Kommentator Maxim Jussin zitiert, was ihm ein alter Freund aus Kyjiw zur Lage in der Ukraine berichtet:
„'Politik kehrt allmählich in unser Leben zurück', sagte er. 'Nach Kriegsbeginn gab es praktisch keine mehr. Alle scharten sich um den Präsidenten. Sie hatten Angst, ihn zu kritisieren, und wollten das auch nicht: Er wurde als Symbol der kämpfenden Nation wahrgenommen. Jetzt gibt es keinen solchen Zusammenhalt mehr. Die Opposition ist mutiger geworden, die Menschen beginnen, Zweifel und Skepsis laut zu äußern. Und im Präsidententeam selbst gibt es Risse.' ... Die politische Opposition, die bisher ruhig und loyal war, ist wieder lebendig. Das betrifft vor allem die Anhänger des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko.“
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Jetzt nicht im Stich lassen
In dieser innenpolitisch schwierigen Lage braucht die Ukraine die Unterstützung von außen besonders, meint The Times:
„In Kyjiw brodelt es unter der Oberfläche und potenzielle Rivalen von Präsident Selenskyj tauchen in aller Stille auf. Generäle, die zugeben, dass das Land in einer Pattsituation gefangen ist, werden als Defätisten gebrandmarkt. Die Ukrainer sind russischen Streitkräften bereits an vielen Fronten unterlegen, die Bombardierung der Zivilbevölkerung geht unvermindert weiter. Selbst wenn die Hilfe wieder in Gang kommt, steht der Ukraine ein langer, harter Winter bevor. Das ist nicht der Zeitpunkt für den Westen, kollektiv die Nerven zu verlieren.“
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Nachdem die Gegenoffensive bereits ins Stocken geraten ist, steht die Ukraine auch abseits der Front vor mehreren Problemen. Der US-Kongress weigert sich, neue Finanzhilfen für Kyjiw zu bewilligen. Ungarn möchte die weitere Ukraine-Hilfe der EU nicht wie geplant auf dem Gipfel im Dezember besprechen. Bereits beschlossene Unterstützung steckt fest, Munitionslieferungen verzögern sich. Für Europas Presse ein No-Go.
Dieser Winter macht Unterstützung noch wichtiger
Wir dürfen die Ukraine jetzt nicht im Stich lassen, appelliert Tygodnik Powszechny:
„Im dritten Kriegswinter - der diesmal abrupt begonnen hat, mit abwechselnd Schneestürmen und Schneeschmelze; tagsüber plus 10, nachts unter Null - sind die Verteidiger vielleicht sogar noch mehr auf Hilfe angewiesen als vor einem Jahr.“
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Albtraum: Putin gewinnt und Trump regiert
Mehr Hilfe für Kyjiw ist im eigenen Interesse der EU, betont El País:
„Russland hat eine enorme Erosion erlitten, aber es hat sich militärisch neu aufgestellt. ... Es könnte schwerwiegende Folgen haben, jetzt bei der Hilfe für Kyjiw nachzulassen. ... Die Ukraine verdient Unterstützung. Das ist auch im Interesse der EU im Hinblick auf ihre künftige Erweiterung. Das Land hat ernsthafte interne Probleme. Es muss angesichts der Korruption seine Demokratie stärken. ... Es wäre ein schwerer Fehler, Russland wegen seiner anfänglichen Misserfolge zu unterschätzen. ... Allein die Vorstellung, dass Putin Boden gewinnt und Trump ins Weiße Haus zurückkehrt, sollte jeden in der EU davon überzeugen, die Ukraine weiterhin zu unterstützen.“
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Russland muss endlich gestoppt werden
Es wäre ein fataler historischer Fehler, bei der Hilfe für Kyjiw zu zögern und sich nur auf die USA zu verlassen, warnt NRC:
„Putins Terrorkampagne geht viel weiter als das Fortbestehen der Ukraine und das Schicksal von rund 40 Millionen Bürgern. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Russland aufhört, wenn es sein Nachbarland eingenommen hat. Die alarmierenden Berichte über die anhaltende russische Bedrohung scheinen noch immer nicht voll durchzudringen in den europäischen Hauptstädten. Staaten und Industrie arbeiten noch immer nicht ausreichend zusammen bei der Produktion von Waffen und Munition. ... Mit der unbegrenzten Fortsetzung der amerikanischen Unterstützung zu rechnen, wäre ein Beweis von Naivität. “
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Fokus der Politik weiterhin vorhanden
Europas Unterstützung für Kyjiw ist nicht verschwunden, erklärt Politologe Bernardo Pires de Lima in Visão:
„Der Europäische Rat wird hoffentlich noch in diesem Jahr die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine offiziell eröffnen und diskutiert bereits über die Kanalisierung der eingefrorenen russischen Gelder für den ukrainischen Kriegseinsatz, über eine neue Runde von Sanktionen gegen Russland und vor allem über die endgültige Beendigung der zwielichtigen russischen Öl- und Gaslieferungen an die europäischen Märkte, die die objektiven Quellen der Militärfinanzierung Moskaus sind. Dass die Ukraine aus den Nachrichten verschwunden ist, bedeutet nicht, dass sie für den Westen strategisch bedeutungslos geworden ist.“
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Medien sollten sich gut überlegen, was sie schreiben
Putins Chancen, den Krieg zu gewinnen, sähen zunehmend realistisch aus, schreibt The Economist - was La Repubblica erbost:
„Wir sind in Europa Gegenstand eines asymmetrischen Krieges, der auch die Information betrifft. Die Annahme, dass Russland gewinnt, ist nicht nur eine falsche Analyse, sondern birgt auch die Gefahr, die Unterstützung für die Ukraine in einer besonders schwierigen und heiklen Zeit zu schwächen. ... In Wirklichkeit bieten wir dem Kreml-Zaren eine Stütze, der davon überzeugt ist, dass er auf Zeit spielen kann, indem er auf die 'Müdigkeit' des Westens setzt und auf eine eventuelle Wiederwahl Donald Trumps wartet. ... Es scheint, dass wir noch nicht erkannt haben, dass wir indirekt an einem Krieg beteiligt sind, der für die Zukunft der europäischen Sicherheit entscheidend ist.“
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