Dazu Antje Vollmer:
"Wann und wie entstand
aus einer der glücklichsten Phasen in der Geschichte des eurasischen Kontinents, nach dem nahezu
gewaltfreien Ende des Kalten Krieges, diese erneute tödliche Eskalation von Krieg, Gewalt und
Blockkonfrontation? Wer hatte Interesse daran, dass die damals mögliche friedliche Koexistenz zwischen Ost
und West nicht zustande kam, sondern einem erneuten weltweitem Antagonismus anheimfiel?
Und dann die
Fragen aller Fragen: Warum nur fand ausgerechnet Europa, dieser Kontinent mit all seinen historischen
Tragödien und machtpolitischen Irrwegen nicht die Kraft, zum Zentrum einer friedlichen Vision für den
bedrohten Planeten zu werden?
Für die Deutung historischer Ereignisse ist es immer entscheidend, mit welchen Aspekten man beginnt, eine
Geschichte zu erzählen.
Ich widerspreche der heute üblichen These, 1989 habe es eine etablierte europäische Friedensordnung
gegeben, die dann Schritt um Schritt einseitig von Seiten Russlands unter dem Diktat des KGB-Agenten Putin
zerstört worden sei, bis es schließlich zum Ausbruch des Ukraine-Krieges kam.
Das ist nicht richtig: 1989 ist eine
Ordnung zerbrochen, die man korrekter als „Pax Atomica“ bezeichnet hat, ohne dass eine neue
Friedensordnung an ihre Stelle trat. Diese zu schaffen, wäre die Aufgabe der Stunde gewesen. Aber die
visionäre Phantasie Europas und des Westens in der Wendezeit reichte nicht aus, um ein haltbares Konzept
einer europäischen stabilen Friedensordnung auszudenken, das allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion
nunmehr einen Platz verlässlicher Sicherheit und Zukunftshoffnungen anzubieten vermocht hätte.
Zwei Gründe sind dafür entscheidend. Beide haben mit alten europäischen Irrtümern zu tun:
Zum einen wurde
der umfassende wirtschaftliche und politisch Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 einseitig als triumphaler
Sieg des Westens im Systemkonflikt zwischen Ost und West interpretiert, [...] eine alte westliche Hybris und
seit jeher Grund für viele Demütigungen, die das ungleiche Verhältnis zum Osten prägen. [...] Vor allem aber wurde so das ungeheure einzigartige Verdienst der
sowjetischen Führung unter Michael Gorbatschow [...] als gerngesehenes
Geschenk der Geschichte eingeordnet: Die große Vorleistung des Gewaltverzichts in der Reaktion auf das
Freiheitsbestreben der Völker des Ostblocks galt als nahezu selbstverständlich. [...] Dass gerade diese Gewaltfreiheit das
größte Wunder in der Reihe wundersamer Ereignisse war, wurde kein eigenes Thema. Es wurde vielmehr als
Schwäche gedeutet. [...]
Das mag menschlich, allzu menschlich sein [...] Fatal allerdings ist, dass
dieser Teil der Bürgerrechtler heute zu den eifrigsten Kronzeugen eines billigen antirussischen Ressentiments
zählt. Er knüpft dabei bruchlos an jene Ideologie des Kalten Krieges an, die vom berechtigten Antistalinismus
über den verständlichen Antikommunismus bis hin zur irrationalen Slawenphobie viele Varianten von
westlichen Feindbildern bis heute prägt. [...]
Gerade die Grünen, meine Partei,
hatte einmal alle Schlüssel in der Hand zu einer wirklich neuen Ordnung einer gerechteren Welt. Sie war durch
glückliche Umstände dieser Botschaft viel näher als alle anderen Parteien. [...] Wir waren per se
Dissidenten. Wir waren gleichermaßen gegen die Aufrüstung in Ost wie im Westen, wir ahnten die Gefährdung
des Planeten durch ungebremstes Wirtschaftswachstum und Konsumismus. Wer die Welt retten will, musste
ein festes Bündnis zwischen Friedens- und Umweltbewegung anstreben, das war eine klare historische
Notwendigkeit, die wir lebten. [...] Was hat die heutigen Grünen verführt, [...] ihre wertvollsten eigenen Wurzeln verächtlich zu machen als lautstarke
Antipazifisten?
[...]" (Antje Vollmer: Vermächtnis, 2023)