Sonntag, 31. August 2025

euro|topics: Endet die Solidarität mit geflüchteten Ukrainern?

In Polen ist ein Konflikt um Sozialleistungen für ukrainische Geflüchtete ausgebrochen. Präsident Karol Nawrocki legte Einspruch gegen das Ukraine-Hilfen-Gesetz der Regierung ein, das Unterstützung wie Kindergeld und Sozialhilfe bis März 2026 sichern soll. Kommentatoren sehen Symptome für eine schwindende Hilfsbereitschaft und Risiken für Europa.

Krytyka Polityczna (PL)

Mythen über Sozialbetrug bestimmen die Politik

Betrug mit dem Erhalt unberechtigter Leistungen ist aktuell kein Problem mehr, gibt Krytyka Polityczna zu bedenken:

„Zum Missbrauch, also zum Bezug von Leistungen für Kinder, die sich gar nicht mehr in Polen aufhielten, kam es vor allem in den Jahren 2022 bis 2023. Seitdem ist es ein größeres Problem, dass Migrantinnen, die Polen für weniger als 30 Tage verlassen haben, aber nach ihrer Rückkehr kein Kindergeld mehr erhalten, monatelang im Sozialversicherungsamt (ZUS) um ihre Leistungen kämpfen müssen. Aber rationale Argumente bringen hier nicht weiter: Der Satz 'Wir helfen der Ukraine und den Ukrainern zu viel' ist bereits zum allgemeinen gesellschaftlichen Mythos geworden.“

Olena Babakova
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Rzeczpospolita (PL)

Polen und Ukrainer sitzen im selben Boot

Die Ukrainer zu Gegnern zu erklären, hält Rzeczpospolita für unklug:

„Polen braucht schon heute ukrainische Arbeitskräfte, und morgen wird es sie noch dringender brauchen. Es braucht die Ukraine, die die Offensive der russischen Armee aufhält, und in drei bis fünf Jahren wird es sie noch dringender brauchen. Selbst wenn unsere Interessen in vielen Fragen auseinandergehen, werden wir in strategischen Fragen in den kommenden Jahrzehnten aufeinander angewiesen sein. Es sei denn, die Ukraine fällt in die Hände antiwestlicher Oligarchen und teilt das Schicksal von Belarus, indem sie zu einer ebenso großen Bedrohung wird wie das Vasallen-Regime von Alexander Lukaschenka. Für uns ist es besser, in der Ukraine einen Verbündeten und Freund zu haben.“

Michał Szułdrzyński
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Espreso (UA)

Geflüchtete zahlen mehr ein, als sie bekommen

Die Wirtschaftszahlen sprechen dafür, die Ukrainer weiter zu unterstützen, schreibt Journalist und Parlamentsabgeordneter Mykola Knjaschyzkyj (Partei Europäische Solidarität) in einem von Espreso übernommenen Facebook-Post:

„Laut Statistik haben 70 Prozent der ukrainischen Geflüchteten im erwerbsfähigen Alter in Polen eine Arbeit, davon sind 90 Prozent Frauen. Ihr Beitrag zum BIP-Wachstum Polens beträgt 2,7 Prozent, und sie zahlen jährlich über 15 Milliarden Złoty [rund 3,5 Milliarden Euro] an Steuern in den Staatshaushalt. Gleichzeitig betragen die Kindergeldzahlungen von 800 Złoty pro Kind für ukrainische Geflüchtete insgesamt lediglich 2,4 Milliarden Złoty [rund 560 Millionen Euro]. Die Ukrainer tragen also deutlich mehr zur polnischen Staatskasse bei, als sie daraus erhalten.“

Mykola Knjaschyzkyj
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NV (UA)

Sündenböcke der Systemkrise

Wo der Staat versagt, wird oft Fremden die Schuld in die Schuhe geschoben, meint NV:

„Ziemlich oft ist es die Ineffizienz der Innenpolitik in den Bereichen Bildung, Gesundheitswesen und Rentenversorgung, die eine Suche nach Schuldigen auslöst – und diese Schuldigen werden dann in den Migranten gefunden. Dazu trägt auch das traditionell niedrige Vertrauen der Bürger in mittel- und osteuropäischen Staaten in die Institutionen des Staates bei. Denn wenn die Politik im eigenen Land schlecht funktioniert, wendet man sich mit diesen Fragen – sofern das Vertrauen in den Staat vorhanden ist – an den Staat; fehlt dieses Vertrauen, sucht man nach jemandem, der 'in den Brunnen gespuckt' hat. ... Migranten sind dabei stets ein leichtes Ziel, weil sie fremd sind.“

Olha Duchnitsch
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Hospodářské noviny (CZ)

Russland reibt sich die Hände

Hospodářské noviny konstatiert:

„Der innenpolitische Streit zwischen dem neuen polnischen Präsidenten Karol Nawrocki und der Regierung von Premier Donald Tusk hat die Situation von einer Million ukrainischen Kriegsflüchtlingen im Land verschärft. Nawrocki weigerte sich, eine Gesetzesänderung zu unterzeichnen, die ihren Schutz erweitert, ihnen Zugang zum Arbeitsmarkt und soziale Unterstützung ermöglicht. ... Die Unsicherheit könnte der organisierten Kriminalität mehr Möglichkeiten eröffnen, Flüchtlinge auszubeuten, und sich auch auf die Situation der Ukrainer in den Nachbarländern auswirken. Die russische Propaganda hat bereits begonnen, das Problem auszunutzen und greift historische Themen auf, die Polen und Ukrainer spalten.“

Martin Ehl
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Samstag, 30. August 2025

Wann sollten und wann dürfen Juden handeln?

norberto42 über Primo Levis Roman:

Primo Levi: Wann, wenn nicht jetzt? (1982/86)


Verfälschungen

 „Korrigiert die Weltkarte!“: 

Eine Kampagne, um Afrika seine tatsächliche Größe

 zurückzugeben, nachdenkseiten, 30.8.25

Bekanntlich wird bei der (vermutlich) meistverwendeten Mercatorprojektion der sphärischen Wirklichkeit die Größe der Flächen von Land und Meeren der Welt stark verzerrt wiedergegeben. Es gibt aber keine Projektion, bei der Längen, Winkel und Flächen von dreidimensionalen Objekten gleichzeitig korrekt wiedergegeben werden. Die Mercatorprojektion verfälscht also die Wirklichkeit der Flächengrößen einseitig zugunsten der Wiedergabe gewisser Längenverhältnisse. Andererseits kann man selbstverständlich durch eine Verfälschung des Abbildes die Wirklichkeit nicht verändern. Eine weniger verfälschende Darstellung kann also die "tatsächliche Größe" nicht verändern, genauso wenig wie die verfälschende Darstellung. Was durch eine Darstellung verändert werden kann, ist nicht die Realität, sondern nur das Bild, was wir uns von ihr machen. Doch bekanntlich handeln Menschen nicht auf der Basis der Realität, sondern auf der Basis von Vorstellungen,  die sie von der Welt haben.Deshalb versuchen Autokratien, die Bürger ihres Staates von unabhängigen Informationen abzuschneiden. Ungewöhnlich ist es, wenn Politiker in Demokratien nicht nur korrekte Informationen über ihr eigenes Handeln, sondern auch bereits publizierte Informationen über die Vergangenheit zu unterdrücken, wie es die Regierung von Donald Trump gegenwärtig in großem Stile unternimmt: „ Die US-Regierung tilgt großflächig Informationen aus dem Internet, die nicht ins MAGA-Weltbild passen.“ (ZEIT,28.8.25) Inzwischen haben sich viele Initiativen gebildet, die zusammenarbeiten, um rechtzeitig Informationen zu speichern, bevor die US-Regierung in allen staatsabhängigen Institutionen zu retten befiehlt. Hier geht es also nicht wie bei Snowden darum, geheime Datensammlungen bekannt zu machen, sondern darum der Löschung öffentlicher Daten zuvorzukommen. In beiden Fällen braucht es Whistleblower, weil natürlich nicht jede Datenlöschung vorher bekannt wird.

Freitag, 29. August 2025

euro|topics: Massiver Angriff auf Kyjiw: Eine Botschaft an Europa?

Bei einem massiven russischen Angriff auf Kyjiw sind am Donnerstag mindestens 23 Menschen getötet worden. Der ukrainischen Luftwaffe zufolge wurden 629 Drohnen, Hyperschall- und ballistische Raketen sowie Marschflugkörper eingesetzt. Auch das Büro der EU-Vertretung und andere Institutionen im Stadtzentrum wurden dabei schwer beschädigt. Die möglichen Botschaften hinter der Attacke debattiert Europas Presse.

La Repubblica (IT)

Schuss vor den Bug

Der Angriff richtet sich auch gegen die EU, warnt La Repubblica:

„Der russische Bombenangriff auf den Sitz der EU-Vertretung und des British Council in Kyjiw ist kein Zufall. Die über 600 Drohnen, die Putin auf die ukrainische Hauptstadt abgefeuert hat und die ein Blutbad unter der Zivilbevölkerung angerichtet haben, waren präzise auf materielle und immaterielle Ziele ausgerichtet. ... Das erste Ziel sind natürlich die Illusionen einer ernsthaften Friedensverhandlung, die nur Trump weiter nährt, um nicht zugeben zu müssen, dass sein Freund Putin ihn weiterhin an der Nase herumführt und ihn mittlerweile an der kurzen Leine hält. Das zweite Ziel ist eindeutig Europa, das allein dasteht, die Ukraine zu verteidigen und die russische Aggression abzuwehren.“

Andrea Bonanni
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Frankfurter Allgemeine Zeitung (DE)

Tödliche Raketen statt Verhandlungen

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung interpretiert:

„Da die Russen selbst sagen, sie hätten in der Nacht auf Donnerstag 'Hochpräzisionswaffen' eingesetzt, muss man davon ausgehen, dass die Beschädigung der EU-Vertretung, des British Council und des Büros des US-Senders Radio Liberty in Kiew beabsichtigt war. Es ist Putins Art, dem Westen mitzuteilen, was er von den jüngsten Versuchen hält, eine Verhandlungslösung für den Krieg zu finden ... . Präsident Selenskyj hat recht, wenn er feststellt, Russland habe sich für ballistische Raketen statt für den Verhandlungstisch entschieden.“

Nikolas Busse
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eldiario.es (ES)

Mögliche Reaktion auf von der Leyens Frontbesuch

Brüssel-Korrespondentin Regina Laguna kommentiert in eldiario.es:

„Der Angriff auf das EU-Hauptquartier in Kyjiw hat eine rote Linie überschritten. Vielleicht ist er Russlands Reaktion auf von der Leyens Besuch an der neuen imaginären Frontlinie. So zumindest könnte man es aus Moskaus Sicht betrachten, da die Kommissionspräsidentin die Truppen inspiziert, die der Regierung des russischen Präsidenten Wladimir Putin am unversöhnlichsten gegenüberstehen. Von der Leyens dreitägige Reise beginnt in Lettland und führt weiter nach Finnland, Estland, Polen, Litauen, Bulgarien und Rumänien. Ihr Besuch 'unterstreicht die Unterstützung der EU für die Mitgliedstaaten, die mit den Herausforderungen einer gemeinsamen Grenze zu Russland oder Belarus konfrontiert sind', heißt es in einer Erklärung.“

Regina Laguna
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Wiktor Schlintschak (UA)

Chinas Rolle könnte entscheidend sein

Ein Signal an Peking sieht hingegen der Politologe Wiktor Schlintschak auf Facebook:

„Mit dem Beschuss von Kyjiw signalisiert Putin an China, dass Trump ihm keine Vorschriften machen kann. In einer Woche steht der Besuch des Anführers des russischen Terrorismus in Peking an. Dort braucht er Zusicherungen, dass die Chinesen ihm den Rücken stärken – zumindest durch höhere Öleinkäufe. Im besten Fall sogar durch den offenen Verkauf von Waffen (unter dem Vorwand, die USA täten schließlich dasselbe für die Ukraine). So seltsam es klingt: Der Ball rollt nun zunehmend in Richtung China, nicht in Richtung USA. Denn Peking könnte diesen Krieg mit seinen Entscheidungen tatsächlich auf Pause stellen – oder im Gegenteil das Spiel weiter vorantreiben.“

Wiktor Schlintschak
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